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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Livia’s empfangen und nach ihrem Aussehen und Ergehen gefragt, plötzlich und mit gänzlich ungewohnter Heftigkeit und Bitterkeit sagte: „Ja, jetzt mag sie heiter und gesund scheinen, wo sie allein ist und sich einmal frei fühlt, aber später – bald! – Siehst Du, Junge, ich sollte Dich eigentlich aus dem Hause jagen und Dich mit keinem Blick mehr ansehen! Du bist daran schuld! Du hast’s gemacht, daß man mein Kind mir und Deinem Vater, Dir und ihm selber stehlen konnte, daß man sie zwang, wozu ihr armes Herz Nein schrie! Ich bin einmal ein alter, schwacher, miserabler Hund, ich hab’ keine Gewalt über Andere, keinen Widerstand gegen sie! Ich hätt’ mich eher in Stücke reißen lassen sollen, als daß ich das Elend meines armen Mädchens zugegeben! Ja, verflucht sie Alle und verflucht ich selber!“ fuhr er immer heftiger, schier wüthend fort. „Und Du, Knabe, Du bist das Licht nicht werth, daß Du das Alles verschuldet, daß Du Dich herumgetrieben, indeß die Kleine weinte und sich sehnte und kümmerte, daß Du dem Gesindel freie Bahn ließest, mein Kind unglücklich zu machen und – Dich auch,“ setzte er mit einem Male mit sinkender Stimme hinzu. „Denn Du wirst’s, verlaß Dich darauf! Ich seh’ es deutlich vor mir! Aber ihr habt’s Alle nicht anders gewollt und ich bin ein miserabler alter Kerl ohne Saft und Kraft, dem’s am wohlsten wäre, wenn er erst unter dem Stein in der Kapelle läge.“ – Und er stürzte ein neues Glas Wein hinunter. – Ich war stumm und starr vor Bestürzung und in einer halben Todesangst vor dem, was nun kommen werde. Allein es kam ebenso, wie damals im Winter, nichts mehr. Die Stunde der Offenheit war vorüber.

Was ich vernommen, und noch mehr, was ich glaubte noch weiter dahinter suchen, daraus folgern zu müssen, drückte mich so entsetzlich, daß ich Nachmittags, während der Onkel schlief, zu Eurem Vater, dem Magister, der mit uns gegessen hatte, mich offen aussprach, zum Anfang ihn an jene Mittheilung in seinem Briefe erinnernd, von der ich Euch vorhin gesagt. Ich beschwor ihn, mir die volle Wahrheit zu sagen. Hätte Livia mich geliebt, hätte sie das den Meinen nicht verborgen uns wäre trotzdem von ihnen zu dem Bunde mit meinem Bruder überredet, deutsch gesprochen, gezwungen worden, so müßte ich das Alles für um so infamer erklären, da man einerseits die auf mich gebauten Pläne und andrerseits doch die ungefähre Zeit meiner Rückkehr kannte, so daß man nur kurze Zeit hätte zu warten brauchen, um uns Allen gerecht zu werden. Und so sagte ich ihm auch von jenen Aeußerungen Büren’s, die mich schon im Winter so tief erregt hatten.

Euer Vater war sichtbar sehr betreten durch das Vernommene. „Um Gotteswillen, wie unvorsichtig, wie taktlos!“ rief er endlich. „Ich bitte Sie, junger Freund, lassen Sie sich nichts in den Kopf setzen, schieben Sie vielmehr alle diese Aeußerungen auf die Weinlaune, die unsern alten Herrn und Ihren Schwager erfüllt zu haben scheint. Halten Sie sich an das, was ich Ihnen schrieb, an nichts mehr. Ich habe es ein Unrecht genannt und halte es noch dafür, daß man die alten, Sie betreffenden Pläne umstieß, daß man gegen den Wunsch – von Willen, wissen Sie wohl, ist keine Rede! – des Vaters dem Kinde Ihren Herrn Bruder nahe brachte, daß man sie überredete – wohlverstanden: überredete, nicht zwang! – seine Gattin zu werden, während sie ihn damals sicher nicht liebte, kaum kannte. Daß Livia ernst für Sie gefühlt, mein Freund, dafür spricht nichts, das glaube ich nicht, wenn sich auch ein kindliches, halb kindisches Erinnern an die alten Reden und Spielereien in dem jungen Wesen erhalten haben sollte. Weiter aber ist es sicher nichts gewesen, und daß man sie nicht zum Jawort gezwungen, dafür bürge ich Ihnen. Ich habe vor der Trauung ernst mit ihr geredet und sie nicht gerade heiter, aber ruhig, zufrieden, hoffend auf ein friedliches Glück, ihrer Pflichten, des ganzen ernsten Schrittes sich vollbewußt gefunden. Ohne diese Einsicht in ihr Inneres hätte ich sie nicht getraut, davon seien Sie überzeugt. Und nun nehme Gott Sie Beide in seinen treusten Schutz, besonders aber Sie, mein lieber junger Freund,“ schloß er mit ernster Herzlichkeit. „Geben Sie dem Dämon, der sich in Ihnen regt, den man unvorsichtig in Ihnen wachgerufen, nicht nach, Felix! Es ist Ihr Bruder, es ist Ihre Schwägerin, an deren Ehre, an deren Glück und Frieden schon Gedanken rütteln, wie ich sie bei Ihnen leider sich erheben sehe.“

Er sprach noch lange in ähnlicher Weise fort, ohne daß mir leichter, ohne daß mir klar wurde, was demnächst geschehen könne und müsse. Was ich im Winter überwunden, war Alles wieder da; was ich heut vom Onkel gehört, war so seltsam, so gefährlich mit dem zusammengetroffen, was ich am Morgen empfunden. Die Liebe, die bisher geschlummert, war wach geworden – das war’s. Es kam in mir schon jetzt nichts mehr gegen sie auf, und die Worte Eures Vaters verklangen fast ungehört.

Ich hatte Angst vor dem Heimkehren, ich hatte keine Ruhe zu bleiben, obgleich letzteres jedenfalls das Beste für mich gewesen wäre; ich hätte Zeit gefunden, mich zu fassen, wenigstens ein Maß wiederzugewinnen. Aber es schien mir unmöglich, jetzt gerade von derjenigen nichts mehr zu sehen, die mir eben nur wie ein Stern aufgegangen, welche mir die finster aufsteigenden Wolken sobald vielleicht schon wieder entziehen würden. Und so saß ich am nächsten Morgen wieder auf und ritt heimwärts. Das Wetter – ich gab und gebe viel auf dergleichen – hatte sich geändert; es war wohl noch schön und klar, aber drückend heiß, denn ein Gewitter brütete in der Luft und ließ sie erschlaffend auf den Fluren und Wäldern ruhen. Man brauchte nicht abergläubisch zu sein, um dabei an ein drohendes Unheil zu denken. Und als ich daheim vom Pferde stieg und Livia mir mit Gruß und Frage nach dem Vater herzlich entgegenkam, war das erste Wort, das ich darnach von ihr vernahm, ein leises: „Deine Mutter ist seit gestern Abend wieder hier, Felix.“ – Mein Herz zog sich zusammen, das Stillleben mit seinem Glück und Frieden war also nun auch äußerlich schon zu Ende.

Ich hatte damals ein Recht, so zu fürchten und zu denken, ich habe jetzt das Recht, so zu sagen, denn es war zu Ende. Ich kann nicht in Einzelnheiten gehen, ich kann Euch nicht von der Mutter und ihrem Wesen, von unserem Leben mit, neben und unter ihr erzählen. Der Friede und die Behaglichkeit waren fort, wir Familienglieder gingen gelangweilt oder verdrossen umher, die Dienstleute zeigten keine zufriedenen Mienen mehr, sondern nur noch scheue und vorsichtige. Und dennoch wäre es ungerecht, zu sagen, daß die Mutter dies Alles direct verschuldet habe, im Gegentheil war sie gegen alle Welt und auch gegen mich freundlicher, milder und humaner, vor Allem weniger steif, als ich sie jemals gekannt und zu finden gehofft, obschon damit natürlich nicht gesagt ist, daß sie sich gänzlich verändert oder auch nur von ihren hervorstechenden Eigenheiten gelassen habe. Gegen Livia zeigten dieselben sich in allerlei schwiegermütterlichen Airs, in einem gewissen Mäkeln und Zurechtweisen, in einem Belehren und Besserverstehenwollen, was das junge Wesen alles mit der besten Manier von der Welt und unendlicher Geduld hinnahm. Trotzdem war von Mißwollen gegen die Schwiegertochter keine Rede; vielmehr liebte die Mutter sie anscheinend mit aller ihr möglichen Zärtlichkeit, wollte sie stets in ihrer Nähe haben oder selber bei Livia bleiben, ließ sie nie aus den Augen – um es kurz zu sagen: ich sah meine Cousine so gut wie gar nicht mehr allein. Und da wir an einem der folgenden Tage dennoch einmal einen langen Spaziergang in den Wald gemacht und zurückkehrend der uns entgegenkommenden Mutter begegneten, schickte diese Livia zum Knaben hinein und hieß mich sie selber ein Stück begleiten.

„Mein Kind,“ sagte sie, als Livia vor uns im Berceau verschwunden war, und ihr Ton und ihre Stimme waren hoch, „ich weiß nicht, wie Du bist. Die leichten Sitten der Fremde sind hier zu Lande, wenigstens bei uns in Hohensee, noch nicht daheim, und es compromittirt in manchen Augen eine junge Frau, wenn sie mit einem ebenfalls jungen Manne lange einsame Wege macht. Obendrein ist sie Deine Schwägerin, die Gemahlin Deines abwesenden Bruders, uns zum Schutz und zur Aufsicht anvertraut, und Du –“ – „Und ich,“ fiel ich ihr in’s Wort, denn länger ließ mich Stolz und Zorn nicht schweigen, „und ich, Mutter, habe meines Wissens von den Sitten der Fremde nichts in mir aufgenommen und nichts von ihnen gezeigt, da wir hier nicht in der Türkei leben, wo es schon ein Verbrechen, wenn man eine andere als die eigene Frau nur anzusehen wagt, und wo ein solcher Blick des Fremden auch der Frau selber zum Verbrechen angerechnet wird. Ich glaube auch nicht, daß Livia selbst sich ähnliche Prätensionen und Beschränkungen gefallen lassen würde, am wenigsten mir gegenüber. Denn Du weißt doch, daß sie meine Cousine war, lange bevor sie meine Schwägerin wurde, und daß ich sie damals mindestens ebenso herzlich lieb gehabt, ebenso ungenirt mit ihr verkehrte, wie jetzt, ohne daß sie dadurch compromittirt worden wäre, selbst wenn ich sie jetzt noch unverheirathet wiedergefunden und den alten Verkehr erneuert hätte, wie es nun geschah.“


(Schluß folgt.)



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