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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

des Bürgerkriegs und der nationalen Zerfleischung. Die innere geistige und sittliche Zerrüttung geht eine Zeitlang der äußeren Verwilderung voran, und leider stellt uns bereits die Gegenwart in den meisten deutschen protestantischen Landeskirchen das Bild der Verwirrung vor Augen. Mit Ekel und Verachtung wenden die Gebildeten von dem widerwärtigen Schauspiel der orthodoxen Restauration sich ab; die Massen verhalten sich gleichgültig oder sind innerlich verstimmt; die Führer der Restauration liegen sich aber bereits selbst in den Haaren, und Einer erhebt Mund und Hand zu Flüchen und Schlägen wider den Andern.

Der hannoversche neue Katechismus aber ist – seinem gesammten Inhalte nach – ein Product des orthodoxen, ausschließlich confessionalistisch gesinnten, lutherischen Dogmatismus. Den Kindern die altorthodoxe Dogmatik – gehe es, wie es gehe – wieder beizubringen, mit allen ihren Härten und Unbegreiflichkeiten, in ihrer abstoßenden Schulsprache und ihrer gemüthlosen Trockenheit: das ist die Aufgabe, an deren Lösung alle evangelischen Lehrer und Geistlichen Hannovers von jetzt an mit Hülfe des neuen Katechismus arbeiten sollten.

Auf diesen größtentheils, Gottlob! längst überwundenen, fast mittelalterlichen Standpunkt sollte und mußte – nach dem Willen und der Meinung der hochkirchlichen Leiter Hannovers – die christliche Lehre in Schule und Kirche ihres Landes gewaltsam, durch einen absoluten Act, zurückgeschraubt werden. Solches war der schlimme Zustand, welcher dem Lande Hannover allgemein nahe bevorstand und der in vielen Gemeinden auch schon thatsächlich durch blinden passiven Gehorsam der Schullehrer und Geistlichen angebahnt wurde; denn bereits waren gegen 200,000 Exemplare des „Neuen Katechismus“ gedruckt, und täglich wurden davon Ballen in die Gemeinden geschickt. Das auch im Lande Hannover theuer erkaufte und verbriefte staatsbürgerliche Recht der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ erschien damit auf’s Aeußerste bedroht, und der trübe, geistesverschlammende Strom religiöser Verdummung schien damit unaufhaltsam und unvermeidlich sich über das ganze Land ergießen zu sollen. Zwar hatte die liberale hannoversche Presse schon seit länger gegen dies aufsteigende theologische Ungewitter geeifert und gewarnt; allein ihre Zeitungsartikel wurden einerseits durch sophistische Entgegnungen und Verdrehungen der conservativen Blätter neutralisirt und waren anderntheils, wie Zeitungsartikel überhaupt in solchen Umständen, nicht mächtig genug, einen Sturm der öffentlichen Meinung hervorzurufen, dessen Donnerstimme bis an das Ohr des einzigen Sterblichen, von dem Abhülfe möglich, des Monarchen, dringen konnte, um aus dessen höchster, über dem Parteilärm und Parteiinteresse stehender Einsicht ein rettendes Veto in dieser höchsten Noth des Gewissens und Glaubens seines Volkes hervorzurufen.

Zu solchem Rufen und Anrufen bedurfte es eines Mannes, eines im Leben und Wandel unbescholtenen, dabei im vollen Verständniß der Sache stehenden Mannes, bedurfte es einer gleich sehr mit Erkenntniß wie Willenskraft ausgerüsteten Persönlichkeit. Und dieser Mann erstand der bedrohten hannoverschen Glaubensfreiheit in der Person des Pastor Baurschmidt im hannoverschen Städtchen Lüchow an der Unterelbe. Mit einer von ihm verfaßten Broschüre, betitelt „Prüfet Alles. Ein Wort über den neuen Katechismus etc.“, nahm dieser bislang über seinen Kirchensprengel nicht hinaus bekannte und wirksam gewesene Landprediger entschlossen den Fehdehandschuh gegen das hannoversche Consistorium und dessen gemeingefährliches Verfahren auf. In allgemein faßlicher eindringlicher Rede wies er selbst für den Laien, Bürger und Bauer verständlich die Vernunftwidrigkeiten des Inhalts dieser aufoctroyirten neu-alten Katechismuserklärungen zusammt der verfassungswidrigen Einführung desselben nach. Wie ein Blitz schlug dies Baurschmidt’sche öffentliche Wort in alle für das heilige Gut der Glaubensfreiheit noch nicht indifferenten Gemüther und rief sie wach. Den ersten Impuls aber erhielt seine Sache, die gute Sache der Gesammtheit des Volkes dadurch, daß die Kunde sich verbreitete: „Pastor Baurschmidt sei vor das hannoversche Consistorium citirt worden, zu einem Verhör und eventueller Verurtheilung wegen seiner angeblich aufrührerischen Broschüre!“

Und so war es wirklich. Pastor Baurschmidt war wegen seiner genannten Schrift auf den 8. August zur Vernehmung vor das Consistorium in Hannover geladen worden, und Alles in Stadt und Land sah mit höchster Spannung diesem Tage entgegen. Unterdessen nun fing die Opposition gegen den „Neuen Katechismus“ an, sich zu gemeinsamen Schritten zu organisiren. Am 1. August wurde in Hannover selbst durch eine Anzahl namhafter Bürger eine „allgemeine Bürgerversammlung im Saale des Thalia-Vereins“ zur Berathung und Entwerfung einer Petition an Se. Maj. den König um Abhülfe in dieser Katechismusangelegenheit berufen. Die Adresse, mit Tausenden von Unterschriften bedeckt, kam unverzüglich zu Stande und ging zu ihrer Bestimmung ab. Diesem Beispiele der Residenz folgten alsbald die Städte Hameln, Hildesheim, Celle, Lüneburg, welchen in steigender Bewegung gleicherweise die meisten anderen Städte des Landes und die größeren Landgemeinden nach und nach sich angeschlossen haben.

Unterdessen rückte der für die Annalen der Residenzstadt denkwürdig werden sollende Tag heran, wo der Pastor Baurschmidt vor dem hannoverschen Consistorium sich stellen sollte. Es war in der Stadt bekannt geworden, daß er daselbst am 6. August Nachmittags mit dem Eisenbahnzuge von Celle eintreffen werde.

Schon in Celle war Baurschmidt mit großem Enthusiasmus begrüßt worden. Sein Empfang von Seiten der Bürgerschaft Hannovers aber überstieg Alles, was diese Stadt je Aehnliches erlebt hat. Viele Tausende, darunter alle angesehensten Bürger, Kaufleute, Handwerker etc., hatten in der Halle und auf dem Bahnhofsplatze sich versammelt. Nichtendender Jubel begrüßte den mit den Seinigen, mit Frau und Tochter, Aussteigenden. Er sprach einige Worte des Dankes. Vor dem Bahnhofe erwartete ihn der Wagen seines Gastfreundes und engeren Landsmannes (aus Lüchow gebürtig), des Weinhändlers Schultz. Neuer Jubel und Hochrufe beim Besteigen des Wagens, die er erwidert mit den schlichten Worten: „Es ermuthigt mich, daß meine Sache die so Vieler und hoffentlich auch die Dessen dort oben ist.“ Langsamen Schrittes fährt der Wagen durch die Tausende, welche nur eine Fahrgasse lassen, den viertelstündigen Weg bis zu Schultz’s Wohnung. Abermalige endlose Rufe hier, welchen Baurschmidt mit den Worten antwortet: „Ich wünsche, daß Gott mir Kraft verleihe, morgen nur halb die Worte zu finden zu dem, wovon ich heute durchdrungen bin.“ – Nachdem die „dem Verfechter von Wahrheit, Recht und Licht“ gebrachten abermaligen Hochs verklungen waren, stimmte die ganze Menge, stimmten die Tausende, welche alle anstoßenden Straßen dichtgedrängt ausfüllten, feierlich und erhebend an Luther’s Lied: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Ernste Andacht, erhebende Begeisterung erfüllte alle Gemüther, und zahllosen Augen entquollen die Thränen. Als Baurschmidt am folgenden Morgen sich von seiner Wohnung aus nach dem Consistorium begab, begrüßten ihn wiederum die Zurufe der zu Tausenden versammelten Volksmenge; angesehene Bürger bildeten Spalier längs des Wegs, und junge Mädchen bestreuten den Weg mit Blumen. Die Vernehmung vor dem Consistorium erledigte sich dahin, daß Baurschmidt jede sofortige Einlassung seinerseits ablehnte, sich dagegen zu einer schriftlichen Rechtfertigung auf die ihm zuzumittelnden Beschwerdepunkte bereit erklärte. Abends wiederholten sich vor Baurschmidt’s Wohnung dieselben Scenen wie am Tage seiner Ankunft; die verschiedenen Liedertafeln brachten ihm Ständchen, wobei das „Harre meine Seele“, „Der Tag des Herrn“ und „Eine feste Burg ist unser Gott“ gesungen wurden. Bei seiner Abreise von Hannover begleitete eine zahllose Menschenmenge in langsamem, feierlichem Zuge den Wagen, der den allverehrten Mann trug, bis zum Bahnhofe. Auf dem Markte wurden Wagen und Pferde mit Blumen geschmückt, ebenso war die Locomotive, welche ihn davon führte, mit Blumen bekränzt. Herzlich war der Abschied. Stets wiederholte Lebehochs bezeugten dem Gefeierten und bis zu Thränen Gerührten die Theilnahme der Bevölkerung. Auf seiner Weiterreise über Einbeck, Nordheim und Göttingen nach Osterode wurden Baurschmidt gleiche Ovationen dargebracht; in großartigster Weise geschah dies namentlich in Osterode, Baurschmidt’s Geburtsorte, wo man nicht mit Unrecht seine Aufnahme mit derjenigen verglich, welche Luther bei seinem Erscheinen vor dem Reichstage in Worms einst zu Theil geworden.

Unterdeß nun nahm die Aufregung gegen den „Neuen Katechismus“ und die Auflehnung gegen dessen Einführung immer größere Dimensionen an. Der Adressen- und Petitionensturm aus den Stadt- und Landgemeinden wurde allgemein und so groß, daß der König endlich eine andere Ueberzeugung in dieser Angelegenheit gewinnen mußte, als ihm wohl früher die Herren vom Consistorium beigebracht hatten. Und die Hoffnung des Volkes auf die höhere Einsicht ihres Landesvaters und Abhülfe durch ihn –

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