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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„das ist eine Tanzmusik, wie sie mir gefällt! Juchhe, wie die Breter springen … die Freud’ hat mich gesund gemacht! Das Drücken da auf der Brust, mitten in der Herzgruben ist weg! … Aber nein,“ fuhr er ängstlich fort, indem er mit beiden Händen nach der leidenden Stelle faßte … „da kommt’s wahrhaftig wieder … und viel stärker wie sonst… . Heiliges Blut Christi, was ist das? … Mir wird ja auf einmal ganz schwarz vor den Augen … Hilf mir, Mirl, hilf … ich glaub’, ich bin blind …“ Die Tochter war rasch herbeigeeilt und geleitete den Jammernden in die Stube, wo er kraftlos in den Lehnstuhl zusammenbrach. „Hilf mir,“ rief er immer kläglicher, „das Ueberrheiner-Bübel ist da und will mir in die Augen greifen! … Ich seh’ nichts mehr, Mirl … Alles ist schwarz … ich bin blind …“

Vom Garten dröhnten die Beilhiebe und krachten die stürzenden Breter.

„Was ist das für ein Krachen?“ stöhnte der Alte. „Sie sollen aufhören mit dem Schießen! Es geht mir in die Augen … es wird immer schwärzer … Blut Christi, nur nit blind werden … nur nit blind werden …“

Aechzend sank er in den Stuhl zurück; es war nicht die Blindheit, was sich über ihn lagerte – die Nacht des Todes umhüllte seine Augen. Er röchelte noch und streckte sich, als von draußen die letzten Axtschläge ertönten; der Stürzerhof war vereinigt, aber das starre Herz seines Besitzers war gebrochen.

– Waren die Verhältnisse der Bewohner des Guts schon vorher feindselig und unangenehm, so gestalteten sie sich noch unheimlicher durch den Tod des Alten; trotz aller Härte war er doch eine Art Mittelpunkt gewesen, der die widerstrebenden Elemente vereinigte. Ein gemeinsames inneres Band zwischen dem Ehepaare hatte nie bestanden; nun war auch das letzte äußere zerrissen, und Annemarie lag wie zuvor freudlos und wortlos, aber unermüdet den Geschäften des Hauses ob, unbekümmert um Melcher, wie zu jener Zeit, als er noch der Knecht, nicht der Herr desselben gewesen war. Dieser besorgte die große Feld- und Viehwirthschaft, die ihn auch den Tag über vollauf in Anspruch nahm; nur das Mittagessen, zu dem sich auch die Dienstboten versammelten, führte das sonderbare Ehepaar zusammen. Außerdem vermied Annemarie jede Annäherung und wußte jedem Alleinsein auszuweichen. Einmal versuchte Melcher, sie zu beschleichen, als sie Nachmittags in der Wohnstube beschäftigt und Niemand im Hause war. Er trat leise hinter sie, die in Gedanken versunken dastand, und legte ihr die Hand auf die Schulter; was er dazu sagen wollte, kam nicht über seinen Mund, so schnell, mit so unverkennbarem Ausdruck des Schreckens und des Schauders hatte sie seine Hand fortgeschleudert und war beiseite gesprungen. „Komm mir nit in die Näh’!“ rief sie. „Rühr’ mich nit an mit Deiner blutigen Hand!“

„Wenn sie blutig ist,“ sagte Melcher wild, „hast nit Deinen Theil daran? Wer hat’s so gewollt, als Du?“

„Ich hab’ nichts gewollt, als Vergeltung an dem, der den Adrian ermordet hat,“ erwiderte sie finster … „daß es der Bruder gewesen ist, hab’ ich nit wissen können …“

„Was thut das? Wenn Du’s gewußt, hättest Du dem Bruder dann verziehen? Hättest mir gesagt, daß ich einhalten sollt’?“ „Nein … nein … ich hab’s geschworen, wie’s geschrieben steht – Zahn um Zahn, Aug’ um Auge, Blut um Blut …“

„Was zierst Dich als? hintennach? Ist’s nit ganz dasselbe? – Glaub’ mir, wir gehören zusammen, auch wenn Du mir’s nit versprochen hättest …“ Damit schlang er ihr den Arm um die Hüfte und wollte sie an sich ziehen.

Von Grausen erfaßt versuchte sie, sich los zu machen. „Was ich versprochen hab’,“ rief sie, „hab’ ich schon gehalten … ich bin ja Dein Weib! Damit mußt zufrieden sein … ich hab’ Dir’s vorher gesagt, daß ich keinen Menschen mehr gern haben kann …“

„Das will ich doch sehen,“ entgegnete Melcher, „und wenn ich Dich zwingen müßt’, daß Du mir in den Händen zerbrichst! Glaubst, man giebt so leicht auf, nach was man getrachtet hat seiner Lebtag? für was man thut, was ich gethan hab’?“

Sie rang mit ihm mit erliegender Kraft, denn Melcher war ihr an Stärke überlegen; sie hatte seine rechte Hand gefaßt und hielt sie als letzte Abwehr über dem Gelenke fest – diese Bewegung und dieser Druck übten auf ihn eine überraschende Wirkung aus. Er zuckte zusammen, ward bleich bis in die Lippen hinein und wankte, Annemarie loslassend, fast wie taumelnd aus der Stube, daß sie ihm verwundert nachsah. Seit diesem Augenblick wagte er sich nicht mehr an sie, sondern hielt sich in scheuer Entfernung, sie umschleichend, wie ein eingekerkertes Raubthier, das lauernd seine Beute durch die Gitterstäbe betrachtet, die es einmal im günstigen Augenblick zu durchbrechen hofft. Darüber kam der Spätherbst heran, aber nicht mild und allmählich, wie im vorigen Jahre, sondern rauh und streng mit raschem Blätterfall und frühem Frost; der Herbst ähnelte schon dem Winter, der im Innern des Stürzerhofs hauste, wie in der schaurigen Zone Grönlands, wo kein erwärmender und belebender Sonnenstrahl die Erstarrung der monatelangen Nacht durchbricht.

Eine unerwartete Aenderung trat ein, als Annemarie Nachricht von Adrian’s Familie erhielt. Der Alte, dem Land und Gegend verleidet war, hatte eine Reise nach der Pfalz gemacht, um sich in der alten Heimath nach einem neuen Wohnsitz umzusehen.

Der blinde Knabe war in der Pflege des Arztes zurückgeblieben, denn seine Verwundung, die außer dem Verluste der Augen zuerst nur unbedenklich geschienen, hatte innerlich so bedenkliche Zufälle zur Folge, daß das Schlimmste zu befürchten war. Der Knabe siechte und welkte zusehends dahin und drohte in einem unbeachteten Augenblick zu verlöschen, wie ein Lämpchen, dem das Oel gebricht. Da kam über den Rhein her die Botschaft, der alte Pfälzer habe sich dort einen neuen bleibenden Wohnsitz ausgesucht und das müde gottergebene Haupt zur ewigen Ruhe niedergelegt. Als Annemarie das erfuhr, ließ sie anspannen und kam Abends mit’ Davidle zurück, der ihr mit Jubel gefolgt war; hatte er doch beim ersten Laut, als sie in die Stube trat, die Stimme Ameile’s, seiner zärtlichen Pflegerin, wieder erkannt. Sie theilte die Stube mit dem armen Kinde, und wie dieses in ihrer Nähe neu aufzuleben schien, ging auch ihr in dem Wiederbeginn der alten Thätigkeit für den Liebling der Wiederschein einer kurzen, aber seligen Zeit auf. Sie unterzog sich der Wartung mit aller zurückgehaltenen Leidenschaft ihres Gemüths und achtete nicht auf Melcher, der die Anwesenheit des Blinden mit unverhehltem verbissenen Grimm ertrug. Er wagte jedoch, mit Annemarie’s entschiedenem Wesen vertraut, keinen Widerspruch; es war nur eine Scheidewand mehr zwischen ihm und seinen Wünschen. Er wich seinem Weibe und den Knaben wie ängstlich aus und begann seine Abende außer dem Hause zuzubringen. Ein einzelnstehendes Wirthshaus, das unfern an der Kreuzung mehrerer Straßen stand, bot ihm bequeme Gelegenheit zur Zerstreuung, denn es verging selten ein Tag, an welchem nicht Fuhrleute oder Handwerksgesellen dort Nachtherberge suchten und bei Gesang, Trunk und Kartenspiel die langen Abende zu verkürzen trachteten. Während Annemarie in der einsamen Kammer des einsamen Hofes dem Geplauder des kranken Knaben zuhörte und mit schmerzlichem Entzücken die Stimme einsog, aus welcher ihr Adrian’s Ton entgegenklang, saß Melcher in der wüsten Gesellschaft, manchmal in ihr Toben einstimmend, öfter in finsteres Brüten und unheimliche Entschlüsse versunken. Wußte er auch nicht, wie er es erreichen sollte, das Eine stand fest vor ihm, Annemarie mußte ganz die Seine werden, der Blinde mußte fort, und er allein wollte der Herr im Hause sein.

Eines Abends kam er früher als gewöhnlich ziemlich betrunken nach Hause und gewahrte, daß aus der Wohnstube noch Lichtschein auf den Hausplatz fiel. Vorsichtig sah er durch das Guckfenster und erblickte den Knaben, der in der Ecke hinter dem großen Tische in Kissen lehnte, vor sich eine bunte Menge von wintergrünem Buchslaub und kunstlos aus Papier gefertigten Blutnelken, in denen er wohlgefällig herumtastete. Der Jahrestag von Adrian’s Tod war nahe; der Lauscher errieth unschwer die Bestimmung des Kranzes, der unvollendet auf dem Tische lag. Er betrachtete den Kranz und den bleichen Knaben, der fast das Aussehen eines Todten hatte. „Das Bübel ist so elend,“ murmelte er, „daß es völlig ein gutes Werk wär’, wenn man es von seinem Leiden erlöst … ein Druck an die Gurgel müßt’ ihm den Garaus machen, ohne daß man was merken könnt’ … ich kann’s dem Geripp nit vergessen, wie es mich herumgezerrt hat …“ Schweigend lauschte er noch eine Weile, ob Annemarie nicht in der Nähe sei; er hörte sie im obern Stockwerk hin und wieder gehen und in Schränken suchen. Behutsam öffnete er die Thüre und trat ein.

Dem scharfen Ohre des Blinden entging auch das leise Geräusch nicht.

„Bist Du’s, Ameile?“ fragte er.

Melcher schwieg; mit angehaltenem Athem und behutsamen Schritten stand er am Tische und streckte den Arm nach der Kehle

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_674.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)