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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 43. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Hermann Schmid.
(Schluß).


Das Wirthshaus lag am Flüßchen, welches das Dorf durchströmte, an demselben eine Wendung machte, und deshalb langsam und tief an dem Baumgarten vorüberzog, der sich an die Rückseite anschloß. Das Wasser stand beinahe still und sah sich wie ein dunkelgrüner Weiher an, von dessen Grund allerlei Wasserpflanzen emporstiegen, wie Schlingen und Netze, welche sicher versprachen, ein Opfer, das ihnen verfallen, zu umstricken und nicht mehr los zu lassen. Dahin war Annemarie geeilt, um dem Lärmen und Drängen zu entkommen, und sah nun, an einen Weidenstamm gelehnt, durch die hangenden fahlen Zweige in die dunkle ungewisse Tiefe nieder. Es wandelte sie an, sich hinabzustürzen, wie schon oft seit dem Tode des Bruders der Gedanke des Selbstmords in ihr aufgestiegen war. Ihre Aufgabe, Rache zu nehmen für Adrian’s schuldloses Blut, war erfüllt; die Menschen waren ihr verhaßt oder gleichgültig, wie das Leben, von welchem sie nichts mehr forderte oder hoffte. Dennoch war der Gedanke nie zum Entschlusse gereift; ein Rest kindlichen Gefühls gegen den alten hülflosen Vater, dem sie den Sohn geraubt hatte, hielt sie immer davon zurück.

Dazu kam, daß sie sich auch durch das an Melcher gegebene Versprechen gebunden fühlte und es für unehrlich hielt, ihm untreu zu werden. Die stärkste Triebfeder aber, die sie an’s Leben band, war die Liebe zu Adrian und der Glaube, im Jenseits mit ihm zusammen zu treffen. Diese Wiedervereinigung war ihr einziger Wunsch, ihr ganzer Trost, die Gewißheit derselben der kostbarste Juwel ihrer Religion. Adrian war, daran zweifelte sie nicht, längst bei den Auserwählten und Seligen Gottes; eine so reine Seele, wie die seinige, mußte „vom Mund auf in den Himmel gekommen sein.“ Auch sie hoffte dort Eingang zu finden und bebte nicht vor dem Richterstuhle des Ewigen zu erscheinen; hatte sie doch nichts Anderes gethan, als eines seiner furchtbaren Gebote vollzogen – aber mit der Schuld des Selbstmords beladen, auf welchen die Kirche einen ihrer schwersten Flüche wirft, sich in die Ewigkeit zu drängen, das wagte sie nicht … sie hätte sich dadurch selbst zur ewigen Pein verdammt und vom Himmel ausgeschlossen, in welchem Adrian wohnte … darum mußte sie dulden, darum hatte sie das Leben bis zu dem heutigen Tage getragen und wollte es auch ferner.

Entschlossen wandte sie sich von der lockenden Tiefe ab, als fern die Stimmen von suchenden Gästen hörbar wurden, und floh dem Wirthshause zu.

Es war ihr willkommen, daß der Vater darauf drang, daß man nicht, dem allgemeinen Brauche nach, bis zum Abend bleiben sollte; der Alte war in einer fast fieberartigen Aufregung, die theils auf Rechnung seiner unverkennbaren Trunkenheit kommen mochte, theils ein Zeichen seiner Krankheit war, deren Wiederkehr sich beängstigend ankündete. Melcher wollte nicht widersprechen; auch ihn drückte der Zwang, den man vor so vielen Zeugen sich anthun mußte, um in hochzeitlich freudiger Stimmung zu sein. So flog denn bald das bäurisch prächtige Gespann mit den Bewohnern des Stürzerhofes dahin, während auf den Stufen des Hauses Wirth und Wirthin ihre Abschiedsbücklinge machten, die Gäste aus den Fenstern mit Hüten und Gläsern winkten und Vivat schrieen, und die Musikanten mit Trompeten, Baßgeigen und Clarinetten bis auf die Straße herabgekommen waren und den Abfahrenden nachbliesen und nachschmetterten.

Die Gesellschaft war schweigsam und hing ihren Gedanken nach; nur der Alte ließ zeitweise seiner überreizten Munterkeit die Zügel schießen. Er juchzte und sang und rief dazwischen: „Fahrt zu! Das Hauptfest kommt erst noch – das Hauptfest hab’ ich mir auf daheim verspart!“

Was er damit meinte, war klar, als der Wagen nach kurzer Fahrt auf dem Stürzerhofe anlangte; schon am Thore standen ein paar Zimmergesellen in weißen Hemdärmeln, braunen Schurzfellen und mit blanken Aexten, wie zu einem festlichen Aufzuge herausgeputzt. Der alte Bauer hatte sie bestellt, denn vor dem Paare, welches als Herr und Eigenthümer in den ganzen Hof einzog, sollten die Schranken fallen, die ihn so lange in zwei feindliche Hälften geschieden. Es hatte nicht wenig Mühe und Zeit gekostet, bis der Alte dies einzige und höchste Ziel seines Strebens erreicht hatte; namentlich nach dem Tode Sepp’s war es schwierig geworden, es zu verfolgen, denn man mußte das Geld der Braut zurückzahlen, und das konnte wieder nur dadurch aufgewogen werden, daß Annemarie jetzt Alleinerbin war und daß Melcher’s Verwandtschaft ein Uebriges that, ihm die Ankunft auf einem so stattlichen Anwesen möglich zumachen. „Haut zu, Zimmerleut!“ rief er, „haut das Gelump’ zusammen, daß es kracht – der Stürzerhof ist wieder ganz! Der Stürzerhof ist unser!“

Im Augenblick schallten die Axtschläge, und die Breterwand stürzte prasselnd nieder, welche das Fletz des Hauses getrennt hielt. Annemarie war in ihre Kammer getreten, den Brautstaat abzulegen; Melcher stand neben dem Alten, der jubilirend dem Einstürzen zusah. Jetzt waren die letzten Breter beseitigt, und durch die hintere Thür des Hauses übersah man Hofraum und Garten, wo die Zimmergesellen sich eben lachend daran machten, die Planke in der Mitte niederzuschlagen. „Haut zu,“ rief er immer wieder,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_673.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)