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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

übten beständigen Tauschhandel, wobei die Schmetterlinge nach der Häufigkeit in der Gegend abgeschätzt wurden. Der Wolfsmilchschwärmer war in Gießen äußerst selten, in Darmstadt schon häufiger, stand aber nichts desto weniger hoch im Preise. Wie wunderten wir uns, als wir eines Tages bei einer Ferienreise nach der „Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs“ den weiten Exercirplatz vor der Stadt, wo den Darmhessen militärische Bildung und Schwindsucht zugleich angedrillt werden, dicht mit Wolfsmilch übersäet fanden, auf welcher Raupen der Schwärmer in Menge weideten! Wir sammelten Hunderte und kehrten triumphirend nach Hause. Trotz der Warnungen unserer kleinen Darmstädter Freunde, welche energisch behaupteten, die auf dem Exercirplatze gesammelten Raupen seien mit dem militärischen Fluche der Sterilität behaftet und erzeugten nur kleine Mücken, aber keine Schmetterlinge; um letztere zu haben, müsse man Schmetterlinge fangen, von diesen Eier legen lassen und aus diesen Eiern Räupchen in geschlossenen Räumen ziehen – trotz dieser Warnungen beluden wir uns mit Wolfsmilch-Raupen, die wir harmlos in die Ecke kriechen und sich einpuppen sahen. Es kam nie ein Schmetterling zum Vorschein – die untersuchten Puppen waren leer, mit kleinen Gespinnsten gefüllt. Die Aufhellung der Sache, die uns abermals ein Räthsel erschien, ergiebt sich wohl von selbst aus dem Gesagten: die Darmstädter Sandwüste ist von Schlupfwespen übervölkert.

Die Schlupfwespen beschränken sich nicht nur auf Insecten anderer Ordnungen; sie greifen auch ihre eigenen Verwandten an, und man kennt sogar Beispiele, daß die in andern Insecten schmarotzenden Schlupfwespenlarven einer zweiten Schlupfwespenlarve zum Aufenthalt dienen, die also ein doppelter Schmarotzer ist. So giebt es kleine Schlupfwespen, von denen die einen (Aphidius) in Blattläusen, die anderen (Bracon) in Raupen hausen. Noch kleinere Schlupfwespen aber (Chrysolampas und Hermiteles) wissen die im Inneren der Blattläuse und Raupen schmarotzenden Larven mit ihrer Legeröhre zu treffen und ihr Ei in sie hineinzuschieben.

Nun, glaubt man, müßte das Insect, welches einen solchen Schmarotzer beherbergt, auch sehr bald unter ihm zu Grunde gehen; allein dies ist nicht der Fall. Wie ich schon in einer früheren Vorlesung anführte, ist der Larvenzustand namentlich dazu bestimmt, gewissermaßen ein Stoffmagazin anzulegen, das zur künftigen Ausbildung dient. Von diesem Stoffmagazin, von diesem Fettkörper, ernähren sich die schmarotzenden Larven, ohne durch Angriff der Organe dem Leben der Larve selbst eine Grenze zu setzen. So frißt also in dem angeführten Falle die Raupe fort und fort; allein der Stoff, den sie zu ihrer Verwandlung nöthig hat, wird ihr von dem schmarotzenden Bracon weggefressen, und auch dieser frißt nicht für seinen eigenen Nutzen, denn in ihrem Innern haust die Larve des Hemiteles, welche ihr den geraubten Stoff, den sie zur Verwandlung nöthig hätte, entzieht.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten Schlupfwespen für uns nützliche Thiere sind, indem sie die schädlichen Raupen durch Besetzung mit ihrer Brut vertilgen. Die Ueberzeugung von dieser Nützlichkeit ist sogar so weit gegangen, daß man in vielen von Raupen verwüsteten Forsten besondere Raupenzwinger anlegte, in welchen man Schwärme von Schlupfwespen zu erziehen gedachte, die dann wie die Seuchen der Apokalypse über die Raupen herfallen sollten. Heutzutage ist man von der totalen Zwecklosigkeit solcher Versuche wohl zurückgekommen und läßt die Schlupfwespen ziemlich ungestört ihr Wesen treiben, ohne in ihre Entwicklung weder hemmend noch fördernd eingreifen zu wollen.

Die Goldwespen (Chrysidida), die eine lange, wie ein Perspectiv zurückzieh- und ausdehnbare Legeröhre mit einem kurzen Giftstachel am Ende haben und die sich einer Assel gleich zusammenrollen können, wobei ihr breiter, meist in den schönsten Metallfarben glänzender Hinterleib die Unterseite des Körpers deckt, besitzen eine andere Industrie. Sie spielen, sagt ein Beobachter, in der Classe der Insecten etwa dieselbe Rolle, wie der Kukuk in der Classe der Vögel. Unfähig, eine Zufluchts- und Wohnstätte für ihre Larven zu errichten, bemächtigen sie sich durch List der Nester, welche geschicktere Verwandte angelegt haben. Diese schamlosen Schmarotzer lauern auf den Augenblick, wo eine einsame Biene ihr Nest verläßt, schieben die Legeröhre hinein und setzen zwischen den Vorräthen, welche die Biene anhäuft, ihr Ei neben dasjenige der rechtmäßigen Besitzerin. Die Larve der Goldwespe wächst viel schneller, als die Bienenlarve, und frißt dieser die Nahrung weg, so daß sie vor Hunger stirbt, oder sie krallt sich auf dem Rücken derselben fest und saugt sie langsam aus, bevor sie ihr den Gnadenstoß giebt. Ungestraft aber kommen sie nicht immer durch, und wehe ihnen, wenn die stärkere Biene sie auf der That ertappt! Lepelletier de Saint-Fargeau, dessen Beobachtungen so viel zur Kenntniß der Sitten der Hautflügler beigetragen haben, erzählt ein Beispiel, das wir nicht umhin können, zu citiren. Die königliche Goldwespe (Hedychrum regium) pflegt ihre Eier in das Nest der Mauerbiene (Osima muraria) zu legen. „Ich habe,“ so erzählt jener Naturforscher, „eine Goldwespe beobachtet, welche mit dem Kopfe voran in eine beinahe vollendete Zelle der Mauerbiene gekrochen war. Nach geschehener Untersuchung hatte sie eben sich umgedreht und schob rückwärtsgehend ihren Hinterleib in die Zelle, als die Mauerbiene mit Blumenstaub und Honig beladen anlangte und mit einem eigenthümlichen zornigen Summen, das ich früher nie gehört hatte, sich auf ihre Feindin warf. Die Goldwespe rollte sich ihrer Gewohnheit gemäß sogleich zusammen, während die Mauerbiene sie mit ihren Kiefern packte, und bildete eine vollständige Kugel, über welche nur die Flügel herausragten. Vergebens suchte die Mauerbiene ihr mit Kiefern und Stachel eine Wunde beizubringen; die Waffen glitten an dem glatten Panzer ab. Nun biß ihr die Mauerbiene die vier Flügel hart an der Brust ab, ließ sie zur Erde fallen, untersuchte ihr Nest mit einer Art von Unruhe, legte dann ihre Ladung ab und flog wieder davon. Die an der Erde liegende Goldwespe aber entrollte sich nach kurzer Zeit, kletterte zu dem Neste hinauf und legte nun ruhig ihr Ei hinein, dessen Unterbringung sie mit dem Verluste ihrer Flügel erkauft hatte.“ Man sieht aus diesem Beispiele, daß der Gerechte in der Natur nicht immer seine Belohnung findet, und daß die Goldwespe dennoch trotz der Kühnheit und Vorsicht, welche die Mauerbiene zeigte, mit raffinirter Schlauheit zu ihrem Zwecke gelangte. Offenbar hatte die Mauerbiene den weisheitsvollen alten Satz vergessen, daß nur die Todten nicht wiederkehren.

Unter den Hautflüglern mit Giftstachel ragen vor allen die einsam lebenden Grab- oder Wegewespen (Fossores) hervor, bei denen Männchen und Weibchen geflügelt sind und keine geschlechtslosen Arbeiter vorkommen. Die Weibchen machen ihre Nester in der Erde, im Holze, in Mauern, vorzugsweise aber gern im Sande, weshalb man sie denn auch an sonnigen Sandrainen, an Wegen und Dünen außerordentlich häufig findet. Dort graben die meist schöngeschmückten, schlanken Wespen mit großer Schnelligkeit tiefe Gänge ein, auf deren Grund sich die Hallen befinden, in welche die Eier abgelegt werden. Die Larven sind fußlos, wurmförmig, schwach, mit kleinem festen Kopfe, kaum geeignet, eine Beute zu bewältigen, und nichts desto weniger darauf angewiesen, von lebendigen Insecten zu leben. Wahrhaft wunderbar ist der Instinct der Mütter, welcher ihnen dies möglich macht. Jede Grabwespenart verfolgt eine besondere Insectengattuug, mit deren ohnmächtigen Leibern sie die Zelle verproviantirt, in welcher sie ihr Ei abgesetzt hat. Jene holt Raupen, diese Käfer, eine andere Spinnen, und selbst die großen Kakerlaken in den Colonien haben eine gewaltige Grabwespe zum Feind, welche sie in ihr Nest schleppt. Die seltensten Spinnenarten, die man kaum bei tagelangem Suchen erhaschen könnte, findet man dutzendweise in den Hallen solcher Grabwespen aufgestapelt, und für den Käfersammler ist häufig ein solches Nest ein willkommener Fund; denn die darin niedergelegten Exemplare sind stets vollkommen frisch, wie wenn sie eben aus der Puppe gekrochen wären.

Seltsam ist das Verhalten dieser aufgespeicherten Opfer der Grabwespen. Sie sind nicht todt und leben auch nicht, sie befinden sich in einem Zustande tiefer Ohnmacht, kaum fähig, ein Glied zu bewegen, vollständig unfähig, es zu einem bestimmten Zweck zu gebrauchen. In diesem Zustande erhalten sich die Thiere wochenlang, ohne zu faulen oder sich zu zersetzen, sodaß die Larve Zeit hat, einen lebenden Leichnam nach dem andern anzuschroten und so im Inneren auszufressen, daß nur die leere Hülse übrig bleibt. Wären die Thiere bewegungsfähig, so könnte die Waffen- und fußlose Larve sie unmöglich bewältigen; wären sie vollkommen getödtet, so würden sie faulen, ehe die Larve das Ziel ihres Wachsthums erreicht hätte. Die nothwendigen Bedingungen zur Ausbildung der Larve sind also durch jenen seltsamen Scheintod gegeben, in welchen die Opfer versenkt sind.

Welche Mittel wendet aber die Grabwespe an, um auf diese Weise ihr Nest zu verproviantiren und jenen Zustand herbeizuführen, den wir soeben beschrieben? Hören wir darüber denselben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_671.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)