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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 42. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Hermann Schmid.
(Fortsetzung.)


Adrian stand indessen schon lang am Schauerkreuz unter der großen Eiche und sah in den ungewöhnlich milden und heitern Abendhimmel hinaus. Ueber dem westlichen Walde lag eine breite blutrothe Wolke und nahm die Sonne früher als gewöhnlich hinweg; in der dürren Eiche rauschte es, als wie von durcheinander flüsternden Stimmen der Trauer, und das halbverwitterte Schauerkreuz sah finster in die aufsteigende Dämmerung hinein. Adrian schritt unruhig hin und her; unter der Eiche neben der Waldspitze saß Davidle. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Bruder zum Empfang der zärtlichen Pflegerin zu begleiten, der er rasch das ganze Kinderherz zugewendet hatte, und da der Abend so still, die Entfernung nach dem neuen Wohnorte nicht beträchtlich war, hatte Adrian seinen Bitten nicht widerstanden. „Kommt das Ameile noch nicht?“ fragte der Knabe wiederholt. „Siehst Du denn noch nichts von ihr?“

„Ich sehe nichts,“ erwiderte Adrian, „aber sie muß bald kommen; es wird eben doch einen harten Strauß absetzen, bis sie den Hof im Rücken hat. Vielleicht hab’ ich sie aber übersehen, und sie kommt schon in dem kleinen Hohlweg dort unter den Büschen herauf … Wenn’s so ist, will ich ihr all’s leichte Füß’ mache und will ihr Eins singe …“

An den grasigen Abhang vortretend begann er frisch und freudig …

„Sag’ was ist die schwerste Büß’?
Wenn vom Schatz man scheiden muß!
Sag’ was ist die größte Lust?
Wiedersehen, Brust an … “

„Es geht nit mit dem Singe’,“ sagte er abbrechend, „ich weiß selber nit, wie es ist, aber das lange Ausbleiben von dem Mädle macht mir ganz ernsthafte Gedanken … es will sich aach nit recht schicke, daß man neben dem alten ehrwürdigen Kreuz da Liebslieder singt …“

„Adrian, was ist das?“ rief der Blinde ängstlich. „Was rauscht so hinter mir im Gebüsch?“

„Was wird’s sein, Kleiner! Ein Haas, der sein Gelieger sucht … Halt Dich nur ruhig, Davidle. Es wird mir auf einmal so ängstig um’s Herz … es wird doch dem Ameile nichts zugestoßen sein … ich will ein Vaterunser beten …“

Er kniete auf den am Schauerkreuz angebrachten Betschemel nieder, stützte die Arme auf und sah in das geneigte Antlitz des Heilands am Kreuze empor. Auch der Kleine unter der Eiche faltete die Hände.

„Vater unser, der Du bist … betete Adrian, da krachte ein Schuß aus dem Gebüsche, und von der Seite mitten durch die Brust geschossen, sank er lautlos zusammen und überströmte die Fußbank des Betschemels mit seinem Blute.

„Adrian, Adrian, was ist das?“ rief der Blinde erschrocken.

„Wo bist Du, Adrian … gieb Antwort …“ Während er der Erwiderung entgegen lauschte, theilte sich neben ihm das Gebüsch, Melcher sah sich behutsam um und schlüpfte daraus hervor. Mit weiten, lautlosen Schritten langte er bei Adrian an, der eben den letzten Seufzer ausröchelte. „Der geht mir nicht mehr in’s Gau,“ sagte er über ihn gebeugt, „jetzt kann ihn das Ameile finden – droben am Schauerkreuz!“

Ebenso behutsam und rasch wollte, er wieder in das Gebüsch zurück, stieß aber auf den Blinden, der in seiner Herzensangst sich von der Eiche in der Richtung fortgetastet hatte, in der er zuvor Adrian’s Stimme vernommen. „Bist Du’s, Adrian?“ rief er, ihn am Arme ergreifend. „Warum erschreckst Du mich so und antwortest nicht?… Das ist nicht Adrian,“ schrie er angstvoll, als der Mann, den er gefaßt hielt, sich stumm aber gewaltsam loszumachen suchte. „Adrian, wo bist Du? Ist Dir ein Leid geschehn?“ Mit einer seine Jahre weit übersteigenden Kraft hielt er den Unbekannten am Handgelenke fest, und selbst als dieser ihn von sich schleuderte, erfaßte er noch dessen schwarzsammtne Jacke und ließ nicht eher los, bis sie zerriß. Mit einem Stücke derselben in der Hand sank er betäubt zu Boden.

– Sepp fuhr inzwischen lustig durch den Tannenwald dem Stürzerhofe zu. Er hatte den Tag vorher beim Landgericht mit dem alten Ueberrheiner den Kauf und mit seiner jungen Braut den Ehevertrag in Ordnung gebracht und diese heute nach ihrer Heimath zurückgeleitet. Davon kam er seelenvergnügt zurück und war tief in Gedanken und Plänen, wie er es einrichten wollte, wenn er nun Herr und Mayer auf dem ganzen stattlichen Stürzerhofe sein würde, als sich aus dem Straßengraben Melcher erhob und ihm zurief, ihn mit sich zu nehmen. Er trug jetzt eine braune Tuchjacke und hatte eine Waidtasche um, in die etwas Dunkles hineingestopft war.

„Hab’ mich also doch nit verrechnet,“ sagte er, „daß Du des Wegs kommen werdest… . Hab’ noch ein Bischen hinaus gewollt auf den Anstand,“ fuhr er fort, indem er sich neben Sepp auf den Sitz des Wägelchens schwang, „es ist aber nicht zu trauen heut’; der Forstner muß in der Revier sein, – hab’ erst vorhin einen Schuß fallen hören …“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_657.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)