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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

erste Kolbenstoß schon ließ einige der nur noch locker verbundenen Steine zur Erde rollen. Zwanzig Hände griffen zu, die entstandene Lücke zu erweitern. Mit den abgerissenen Bajonneten und kräftigen Kolbenstößen ward die Bresche vollends eröffnet. „Hurrah! wir haben sie! das Thor ist unser!“ jauchzte und jubelte es durcheinander. Alles stürmte herzu. Rennefuß hatte unter den Vordersten ein ganzes Fach eingestoßen, nur leider in voller Mannshöhe und so unglücklich, daß ihm die Querbalken nichtsdestoweniger den Eintritt versperrten. Daneben wogte ein athembeengendes Gewühl um die zweitgebrochene Mauerlücke, jeder wollte der Erste sein, durch dieselbe einzudringen. „Rennefuß, hol’ Dir ’ne Leiter,“ spottete der Eine; „bück’ Dich!“ schrieen Andere. Der Aermste wußte unter den über ihn ausgeschütteten Hohn- und Stichelreden nicht, wie ihm geschah; eben noch vorn, sah er sich plötzlich ganz aus dem Sturmhaufen herausgedrängt. Der lange Schlagetodt heulte vor Wuth und versuchte vergeblich sich durch die dichtzusammengepreßte Menge wieder zu seinem vorigen Platze durchzuarbeiten; sein vorhin im Geheim gefaßter Entschluß, mit unter den Ersten in die Stadt einzudringen und durch verdoppelte Bravour seinen einstigen Fehl von Dennewitz bei den Cameraden vergessen zu machen, war so nur zu seinem erneuten Nachtheil ausgeschlagen.

„Alle Mann hierher! Die Kerle wollen wir schon noch aus dem Loche herauskäschern.“ Sechs oder acht Mann brachten auf ihren Schultern von einem weiter vorn zur Seite der Landstraße angefangenen Bau einen mächtigen Balken getragen. „Angefaßt, Cameraden, halloh!“ Der Stoß des improvisirten Sturmwidders dröhnte dumpf von den gesperrten Thorflügeln wieder. Jeden Augenblick rissen die feindlichen Kugeln den Einen oder den Andern von den mit ihren Armen dies seltsame Sturmwerkzeug in Schwung setzenden Leuten nieder, doch immer Neue traten an die Stelle der Gefallenen. Ein paar Mann hatten den verwundeten Prinzen aufgehoben, um ihn zurückzutragen. „Laßt mich,“ wehrte er denselben, „vorwärts! vorwärts! Die Landwehr kann heute die ältesten Grenadiere beschämen.“ Das eine der beiden im Rückhalt folgenden Linienbataillone war, wahrscheinlich in der Absicht, durch die Gärten, welche sich zwischen dem äußeren Grimmaischen und dem Hinterthor (beim jetzigen Schützenhause) ausbreiteten, vielleicht leichter in die Stadt zu gelangen, nach rechts ausgebogen, doch das aus einem in der Richtung des letztgenannten Thores weit vorspringenden Gartengehöft auf dasselbe gerichtete Geschütz- und Gewehrfeuer wehrte ihm das Vordringen. Das zweite Bataillon hielt unter den sicheren Schüssen der feindlichen Schützen auf dem Kirchhofe weiter zurück auf der Landstraße und schien seine Zeit noch abwarten zu wollen. Alle die letzterzählten wie die nächstfolgenden Vorfälle drängten sich beiläufig in die Frist weniger Minuten zusammen.

„Kinder, Ihr werdet mich nicht verlassen!“ rief der Major. Die Oeffnung im Thorwärterhäuschen erwies sich weit genug, um einem oder auch zwei Mann zugleich in gebückter Haltung das Durchzwängen zu gestatten. Der Major hatte sich zuerst hineingestürzt, doch unter den Händen gleichsam war ihm zuvor noch ein kleines, behendes Kerlchen vorausgeschlüpft. Ein paar Schüsse knallten aus dem Innern des Gebäudes, und in der Bresche selbst brach von einer Kugel in die Stirn getroffen unter den Nächstfolgenden der Hauptmann Motherbi zusammen. „D’rauf! Schlagt todt! Hurrah!“ donnerte der Schlachtruf der kühnen Stürmer schon jenseit des Thores. Mit einer Riesenanstrengung sich unter die Nachstürzenden einschickend, ward Rennefuß von der sich mit der Gewalt eines angeschwollenen Sturzbaches durch die Mauerlücke ergießenden Menschenwoge erfaßt und emporgehoben. Kopflängs über der Menge schwebend, knallte er mit der Stirn gegen den oberen Rand der Bresche, daß das Haupt gleich hinten überschlug und das aus einer tiefen Wunde über den Augen hervorquellende Blut das ganze Gesicht überströmte. Er verlor die Besinnung, indeß zum Niedersinken blieb hier kein Raum, zwischen den Cameraden eingepreßt, ward der Ohnmächtige mit fortgerissen, und erst als auf dem freien Raum vor dem jenseitigen Eingang desselben sich diese Umstrickung löste, schlug der immer unglückliche Pechvogel halb todt und völlig kampfunfähig zur Erde nieder.

Die Besatzung des Thors hatte bei dem Eindringen der Landwehr nicht Stand gehalten, den Haupttheil derselben sah man an der sich auch innerhalb der Stadt noch eine ganze Strecke fortsetzenden Kirchhofsmauer vorbei den Grimmaischen Steinweg hinabflüchten. Nur ein kleines Häuflein derselben unterhielt noch von dem Eingange der letztgenannten Straße her ein schwaches und unregelmäßiges Gewehrfeuer wider die sich vor dem Thorwärterhäuschen Sammelnden. Das erste Vorgehen der Letzteren genügte indeß, auch diesen noch zusammenhaltenden Rest in die Flucht zu scheuchen. Das Thor war auf seiner inneren Seite mit dagegen gestemmten Balken, umgestürzten Karren und Fuhrwerken, Tonnen, aufgerissenen Pflastersteinen und allem möglichen Hausrath verrammelt. Von außen erschallten noch immer die dawider geführten Stöße des Sturmbocks, Geschrei, Schießen, Trommelwirbel, hier innen dagegen war es verhältnißmäßig still, nur einzelne Schüsse knallten im Rücken der vorgegangenen kleinen Abtheilung von der Kirchhofsmauer.

„Bataillon halt!“ Der etwa auf 100 bis 120 Köpfe angewachsene Haufen war über den freien Platz vor der Kirche bis zu der Stelle vorgedrungen, wo sich nach links von dem Grimmaischen Steinweg eine kleine Gasse abzweigte, nach rechts, einige Schritte weiterhin, der Ausgang der breiteren Querstraße mündete. Vor dem Thore waren zwanzig oder dreißig der Letzteingedrungenen beschäftigt, die Verrammelung wegzuräumen. Einzeln, zu Zweien oder Dreien kamen noch fortgesetzt neue Mannschaften nachgeeilt.

Bisher waren die Straßen todtenstill erschienen, jetzt öffnete sich in einem der benachbarten Häuser ein Fenster, und ein niedlicher Mädchenkopf schaute heraus. „Preußen! Preußen! unsere Erretter! unsere Befreier!“ Wie durch Zauberschlag änderte sich die Scene, die verschlossenen Thüren öffneten sich, alte Mütterchen, Weiber, Männer, Kinder stürzten daraus hervor, den eingedrungenen Kriegern, was die eigene Noth ihnen noch gelassen, zuzutragen.

Auf dem Kirchhofe war es mittlerweile lebendig geworden. Des ennemis! des Prussiens! hörte man rufen; Trommel- und Hornsignale schallten dazwischen. Ein scharfe Salve von dort ließ die erschreckten Einwohner wieder in ihre Behausungen zurückflüchten. „Vorwärts!“ donnerte das Commando des Majors, „das Bataillon nimmt die Richtung nach links.“ Die Gasse ward im Sturmschritt zurückgelegt, doch kaum daß die Vordersten in die nächste Querstraße eingebogen, so stürzten sie auch wieder zurück. „Alles schwarz von Franzosen!“ verbreitete sich der Ruf. In einem Augenblick hatte sich das verwirrte Getümmel wieder bis auf den freien Platz vor der Kirche übertragen.

„Steht! steht!“ versuchten die preußischen Officiere ihre Wehrmänner zu erneuten Anstrengungen anzufeuern. Binnen einem Moment waren zwei oder drei der tapferen Führer von den feindlichen Bajonneten durchbohrt niedergesunken. „Schnell das Thor auf! Heran! heran!“ tönte das Geschrei. Einige riesige Landwehrmänner drängten in diesem Augenblicke vor und schlugen mit Kolben ein. Der nächste Franzose brach unter dem wuchtigen Kolbenschlage mit zerschmettertem Schäoel zusammen. „Immer d’rauf, Cameraden!“ ein zweiter und dritter Gegner stürzten, „hurrah! hurrah!“ die Kolben knackten und krachten, hin und wieder wogte das verzweifelte Handgemenge.

Ein tobendes Jubelgeschrei im Rücken bewies, daß das Thor endlich den vereinten Anstrengungen von innen und von außen nachgegeben hatte. Die nach dorthin vorgerückten Franzosen flüchteten vor dem hereinbrechenden Schwall rückwärts. „Hurrah! die Königsberger Landwehr!“ donnerte der Jubelruf hinterher. Von dem Kirchhofe pfiffen noch immer die Kugeln. Ein Haufe der Neueingedrungenen wandte sich gegen dessen Pforte. Der Feind schwankte immer auffälliger. Das Wirbeln des Sturmmarsches und der feste Taktschritt des jetzt ebenfalls durch das Thor eindringenden Linien-Bataillons entschied endlich vollends. In eine einzige wirre, blutende Masse gepreßt, die Sieger auf den Fersen, flüchteten die Franzosen den Grimmaischen Steinweg aufwärts.

Das Gatterthor des Kirchhofs lag erbrochen, die Besatzung hatte sich gefangen gegeben, doch noch unter der Entwaffnung derselben drängten frische feindliche Massen durch die linke Quergasse heran, und auch auf dem Steinwege war das Gefecht von Neuem zum Stehen gekommen. Der Kampf entbrannte abermals und erbitterter noch als zuvor, die Preußen, eben noch Sieger, sahen sich bis fast wieder zu dem Thore zurückgetrieben.

Plötzlich tönte das Hurrah auch aus der nach rechts sich von dem Steinweg abzweigenden breiteren Querstraße, denn auch dem zweiten Linien-Bataillon war es mittlerweile gelungen, auf dem von ihm eingeschlagenen Wege in die Stadt einzudringen, und es warf sich jetzt von hier aus dem Feinde in die Flanke. Dieser mußte abermals zurück.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_651.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)