Seite:Die Gartenlaube (1862) 644.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Der Wagen rollte fort. Annemarie sah ihm nach, bis er am Waldrande verschwand, dann schritt sie gesenkten Hauptes dem Hause zu. Erst nach einer Weile schlüpfte Melcher aus seinem Versteck hervor; seine Augen rollten, seine Wangen glühten und seine Fäuste ballten sich … „Also jetzt weiß ich’s gewiß,“ murrte er, „es ist nicht das Mitleid mit dem Davidle gewesen, warum sie alleweil bei den Ueberrheinern gesteckt ist! Jetzt weiß ich, warum der Name Mirl auf einmal so garstig klingt! Wart nur, Ameile … so geschwind giebt unser Einer nicht auf, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat … bei dem Finden am Schauerkreuz muß ich auch dabei sein!“

Am Abend saß der Stürzerbauer wieder in seinem Ofenstuhl und sah verwundert Annemarie zu, die geschäftig hin und wieder ging und allerlei auf ein großes Tuch zusammentrug, das über den Tisch gebreitet war. Er wagte nicht nach der Bedeutung ihres Thuns zu fragen, denn seit jenem Abend hatte er den Muth gegen seine Tochter verloren und konnte es nicht aushalten, wenn sie die großen dunklen Augen so recht durchdringend aus ihm haften ließ.

Endlich war sie fertig, band das Tuch an den vier Enden in ein Bündel zusammen und trat damit vor den Vater, indem sie ihm die rechte Hand darbot. „Behüt’ Dich Gott, Vater,“ sagte sie, „ich geh’ jetzt …“

„Du gehst, Mirl?“ rief er mit weit aufgerissenen Augen. „Heut’ noch? Wo willst hin?“

„Fort, Vater – in dem Haus ist mein Bleiben nit mehr!“

„So? Fort?“ rief der Alte, indem er sich im raschen Zorn aufrichtete. „Willst wohl Deinen Ungehorsam voll machen und dem Ueberrheiner-Volk nachlaufen?“

„Ich lauf’ ihnen nit nach – aber es ist wahr, Vater, ich hab’ mich verlobt mit dem Adrian – seinem Vater ist es recht, und wie sie eingerichtet sind auf dem neuen Gut, soll die Hochzeit sein!“

„Das glaub’ ich, daß es dem alten Hallunken recht wär’,“ zürnte der Alte, „aber mir ist’s nit recht! Ich muß auch gefragt werden und meinen Senf dazu geben, und ich sag’: Du bleibst da und machst mir keinen Schritt vor die Thür’, oder ich pfeif’ den Knechten und laß Dich in den Keller sperren!“

„Thu’s lieber nit, Vater, es nutzt Dich doch nichts; ich hab’ mir’s einmal vorgenommen und ich führ’s aus, so gewiß ich Deine Tochter bin …“

„Meine Tochter? Wenn Du’s sein wolltest, gingst Du nit von mir und hingest Dich nicht an das Volk… das ist ein Nagel zu meinem Sarg …“

„Ich thu’ nichts Unrechts, Vater, ich Hab’ mir’s wohl überlegt … drum geh’ ich – Du weißt wohl, meine Schuld ist’s nit, wenn mein Herz ist los geworden von Dir!“

„Dann will ich’s wieder fest machen lassen, Mirl! Dafür giebt’s, Gott sei Dank, noch Gericht und Obrigkeit!“

Annemarie trat vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das thust Du nit, Vater … die Obrigkeit wirst in Ruh’ lassen! Was willst noch mehr haben? Die Ueberrheiner, die Dir so verhaßt sind, sind aus dem Haus … bald hast den ganzen Stürzerhof wieder beisammen! Denk’ ein Bissel nach, Vater… Die Ueberrheiner haben Dir nichts Leids zugefügt – was Du gethan hast, weißt am besten … Sie haben den Weg in’s Landgericht nicht gefunden, sie haben dem Doctor gesagt, das Davidle sei über den Schießzeug von seinem Vater gekommen … das elendige blinde Bübel selbst ist dabei geblieben … Willst Dich jetzt auf die Weis dafür bedanken, daß ich und der Sepp nit unsern Vater beim Weveld[1] suchen müssen? Behüt’ Dich Gott, Vater … was mir gehört von der Mutter her, wirst mir wohl nit weigern und wirst mich gehn lassen!“

„Mirl,“ rief er, mit der Erschütterung kämpfend, die ihre Worte in ihm hervorgerufen, „thu mir das nit an! Hab’ Mitleid mit mir! Schau, zu mir gehörst zuerst … ich will gewiß gut sein mit Dir … Kannst Deinen alten kranken Vater verlassen?“

„Du brauchst mich nit,“ sagte sie finster, „Du hast den Sepp und kriegst die neue Schwiegertochter in’s Haus … ich will den blinden Buben warten … Laß mich nit in Unfrieden von Dir gehn, Vater,“ setzte sie weicher hinzu, da er vor sich hinstarrend schwieg … „Weil’s doch sein muß, nimm nochmal meine Hand zum Abschied … die Verzeihung von dem blinden Davidle liegt drinn, Vater; laß mich nit so gehn und laß mich gut machen für Dich …“

Der Alte zuckte mit der Hand … aber er faßte des Mädchens dargebotene Rechte nicht, sondern schleuderte sie unwillig von sich weg. Eine Sekunde standen sie sich noch Aug’ in Auge gegenüber … dann riß Annemarie die Thüre auf und entfloh.


(Fortsetzung folgt).




Ein Bauern-Sängerfest.

Am 29. Juni 1862 bewegte sich ein Festzug von der Reitbahn am Schloßplatz zu Coburg hinauf zur alten Veste. Er bot nicht den gewöhnlichen städtisch-stattlichen Anblick solcher Aufzüge, die Sängerlust, die heute dem trüben Himmel ein solches Fest anvertraute, trug ein anderes Gewand. Wir haben einen Bund von etwa 20 coburgischen Dorf-Liedertafeln vor uns, die ein Erinnerungsfest an Deutschlands schlimmste und größte Zeit feiern und die Zeugen jener Zeit, des Landes Veteranen aus dem deutschen Befreiungskrieg, im Festzug mit sich führen: etwa vierzig graue Männer, alle mit der Feldzugsmedaille auf dem langen Sonntagsrock oder an der Sonntagsjacke. An Krücken und Stöcken, doch wohlgemuth, humpeln die Alten daher, mit dem wankenden Gebein oft vergeblich nach dem Takte des Marsches von „Anno 13“ strebend, den ihnen zu Ehren die Festmusik spielt; und wenn die Musik schweigt und da und dort einer mit gekrümmtem Rücken Miene macht, zurückzubleiben, so wird er von den Sängern nicht geführt, nein, fast getragen, und vorwärts geht’s, und es ist trotz Wind und Wetter ein Freudenzug. Lauter echte brave Bauernbursche und junge Bauern sehen wir hier geschmückt mit dem Sängerband in den deutschen Farben, und Fahnen oder Kränze auf hohen Stäben, oft mit sinnigen Inschriften, bezeichnen die einzelnen Abtheilungen.

Wir folgen den Schaaren, drängen uns mit durch’s Festungsthor, arbeiten uns bis zu den Terrassen zwischen der alten Lutherkirche und dem neuen Wirthshaus hinan, kehren uns hier um und – stehen vor unserem Bilde, das uns aller weitern Beschreibung der äußeren Anordnung des Gesangfestes im geräumigen ersten Hofe der Veste überhebt. Wir sehen den Raum, welchen die Singvereine, und den Platz, welchen die Veteranen des Befreiungskrieges einnehmen, wir sehen den Declamator, in einer Gallerie des hervorstehenden Treppenhauses am Fürstenbau (zur Rechten), in voller Thätigkeit und den Dirigenten des Gesanges inmitten seiner 450 Sänger auf seinem hohen Posten. Wir haben nun unseren Lesern zu erklären, warum wir sie überhaupt zu diesem Feste führen, und worin die besondere Bedeutung liegt, die demselben in Nr. 30 der Gartenl. (S. 471) zugeschrieben worden ist.

Diese Bedeutung finden wir in des Festes Zweck, in dessen Mitteln und in deren Wirkung.

Noch heute hält sich die ungeheure Mehrzahl der deutschen Dörfer dem neuen Volksgesang und seinen großen Sängerfesten fern; und wo sich dennoch, durch den Eifer von Cantoren und Lehrern angeregt, Dorf-Singvereine bildeten, da stehen sie meist vereinzelt, ohne Zusammenhang mit den Nachbarn und müssen es wohl gar erleben, bei städtischen Sängerfesten das Recht der sängerbrüderlichen Gleichheit gegen sich nicht selten mißachtet zu sehen. Kurz, die veredelnde, versöhnende und verbindende Kraft des deutschen Volksgesanges hat sich an ihnen noch nicht bewährt. – Gegen dieses Uebel, so weit es im Coburger Lande herrschte, erhob sich ein entschlossener Mann, der sich’s dadurch redlich verdient hat, hier genannt zu werden. Der Cantor Carl Düsel zu Rodach nahm sich des verwahrlosten Volksgesanges und der verlassenen Dorf-Singvereine zugleich an, indem er den Bund der coburgischen Land-Liedertafeln stiftete und denselben durch unermüdlichen Eifer und ebenso große Opferfreudigkeit als Geduld zu einem Muster für alle ähnliche Vereinigungen von Bauern-Liedertafeln erhob. – Die Sache scheint uns wichtig genug, um hier den Weg anzudeuten, auf welchem Herr Düsel sein Ziel zu erreichen suchte. Er theilte vor Allem den ganzen Sängerbund in Districte von je vier bis fünf Vereinen. Sind die für ein gemeinsames Fest bestimmten Gesänge

  1. Local: der dem Zuchthause in München gebliebene Name des damaligen Vorstandes.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_644.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)