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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 40. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Die Bursche verschwanden in der Dämmerung; das Mädchen zog das Fenster zu, indeß ihr über Melcher’s Drohung ein Schauder über den Leib lief. Während es draußen noch dämmerte, war es in der Stube schon völlig dunkel geworden, und sie eilte, das Oellämpchen anzuzünden und dadurch die Unannehmlichkeit der Finsterniß und der Einsamkeit wenigstens in etwas zu verscheuchen. Dann nahm sie den Haspel zur Hand, um das Garn, das sich den Tag über auf der Spule angesammelt hatte, abzuwinden, aber der daran angebrachte Schneller, welcher jedes Hundert von Fäden durch einen kleinen Krach anzeigen sollte, bekam wenig zu thun, denn die sonst so rührigen Hände sanken immer wieder lässig herab, und das Köpfchen mußte sich unter der Last der Gedanken beugen, die sich darin hin und wieder trieben. Von Zeit zu Zeit blieb ihr Blick an dem Nelkenstock im Fenster haften; denn sie gedachte der Blumen-Antwort, die sie auf eine so wichtige und dringende Frage zu geben hatte und – geben mußte, das stand klar und deutlich vor ihrer Seele. Sie war auch schnell entschlossen, Adrian das Zweiglein zu geben; warum sollte sie dem guten Burschen Dinge in den Kopf setzen, die doch, wie das Volk sich ausdrückt, „keine Heimath hatten“? Sie konnte auch nicht anders, als Nein sagen; denn wenn ihr auch die aus der Ferne dargebrachten Huldigungen des hübschen Ueberrheiners seit langer Zeit nicht entgangen waren, wenn sie auch insgeheim ihr Wohlgefallen daran gehabt und ihm nicht feind war, konnte sie doch, nicht sagen, daß sie ihn liebe. – Dann aber sah sie Adrian wieder vor sich, wie er ihr so gar treuherzig in die Augen sah; sie hörte, wie er sie sein liebes herziges Ameile nannte, und in ihrem Herzen quoll es so heiß empor, daß sie zusammenbebte und sich gestehen mußte, das sei doch eine andere Empfindung, als die mehr leidend gleichgültige gegen Jemand, dem man blos „nicht feind“ ist. Konnte sie dem braven Menschen solches Herzeleid anthun? Und wenn sie auch wußte, daß der Vater nie seine Zustimmung geben würde, was konnte es schaden, wenn er wenigstens zum Troste erfuhr, daß sie ihm auch gut war? Sie hatte das früher selbst nicht gewußt; sie hatte nicht geahnt, was sich schon seit geraumer Zeit in ihrem Herzen vorbereitete, und war nahe daran, das frei geglaubte Herz an Melcher’s stürmische Bewerbungen zu verschenken – aber das erste Wort aus Adrian’s Munde hatte sonnengleich den Nebel, der sie vor sich selbst verhüllte, niedergedrückt, und das Paradies der Liebe lag weit geöffnet vor ihrer Seele, wie eine schöne Morgenlandschaft, golden und hell, wenn auch schimmernd in den Thautropfen künftiger Thränen. – Sie war noch unentschlossen, als sie schon am Fenster stand und die Scheere an den Nelkenstock setzte, und hätte vielleicht noch länger gezögert, aber sie hörte aus der Entfernung Adrian’s Gesang; sie wußte, daß er um diese Zeit die Pferde in einen kleinen Weiher unweit des Hofes zur Schwemme zu reiten pflegte; er hoffte gewiß, bei der Rückkehr die erbetene Antwort zu finden, und diese Hoffnung sollte ihn nicht täuschen. Rasch schnitt sie Zweig und Blume ab und stand mit glühenden Wangen und hochklopfender Brust im dunklen Hausfletz vor der Breterwand, die dasselbe theilte und hinter welcher die Stiege in das von den Ueberrheinern bewohnte obere Stockwerk führte. Mit merkwürdiger Schnelligkeit hatte sie die Spalte gefunden und wollte das Zweiglein durchschieben … da kamen Adrian’s Stimme und Tritte näher – und die entscheidende Blutnelke lag als beredtes Zeichen der Versöhnung drüben im feindlichen Gebiete …

Annemarie war in die Stube geflohen, aber bis dorthin drang Adrian’s Jubelruf, dessen Stimme noch nie so hell geklungen hatte, als er die Stiege hinauf sang:

„Schön und reich, das bin ich nicht,
Das kannst Du Dir wohl denken;
Aber mein Herz ist reich an Lieb’ und Treu,
Mein Herz will ich Dir schenken!“

Peitschenknall, Hundgebell und Rädergerassel tönte in den Liebesgruß und scheuchte Annemarie hinaus auf die Gräd vor dem Hause, um mit hochgehaltener Oellampe dem heimkehrenden Vater zu leuchten. Als sie dort ankam, hatte der Bauer die Zügel dem Roßknecht zugeworfen und kam der Tochter schon fluchend und scheltend entgegen. „Himmelsacrament,“ schrie er, „ist das eine Art, mich eine halbe Stunde hinstehn zu lassen ohne Licht? Bist auf den Ohren gesessen, daß Du mich nit hast kommen hören? Meinst vielleicht, weil ich nur einen halben Hof hab’, es langt schon für mich mit dem halben Respect? “

„Aber Vater …“ wollte das Mädchen begütigend einwenden, der Alte aber fuhr sie noch wilder an. „Das Maul gehalten!“ schrie er, indem er in die Stube trat und Peitsche und Hut in die Ecke schleuderte. „Ich will nichts hören von Dir! Wo ist der Bub?“

„Aus,“ sagte Annemarie kurz, indem sie das Licht auf den großen Tisch in der Ecke mit dem Hausaltare stellte, wo der Vater sich breit und plump niedersetzte. Der Schein des Lämpchens fiel auf beide Gesichter und erklärte, woher der finstere harte Zug in dem Gesichte Annemarie’s und ihres Bruders stammte: der Bauer war das scharf und hart geprägte Urbild desselben. Der alte Stürzer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_641.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)