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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Heinrich Karl Ludolph v. Sybel.


sah sich verwundert um und schritt zögernd weiter. War denn das ganze Schloß ausgestorben, oder hatte die Prinzessin ihre Vorkehrungen so gut getroffen, daß sie alle ihre Diener entfernt hatte? Es wäre ihm beinahe lieber gewesen auf irgend ein Hinderniß zu stoßen. Diese seltsame Oede beunruhigte ihn. Jetzt stand er an der Thüre des innern Gemaches und öffnete sie. Der röthliche Schein einiger Kerzen stritt mit dem bleichen Lichte des Mondes und erzeugte in dem Gemache ein zwitterhaftes Helldunkel. Dort an dem Betstuhle kniete, tief niedergebeugt, eine weiße Gestalt und betete. Der Graf schloß die Thüre, und Sophie erhob sich mit einem jähen Schrei.

„Herr von Königsmark!“ rief sie, indem sie sich an den Betstuhl klammerte. „Also doch!“

Ihre Züge waren verstört, ihre Augen weit geöffnet, ihre Haare hingen ihr wirr über das Gesicht. Philipp trat näher.

„Was ist geschehen?“ stammelte er. „Mein Gott, was geht hier vor?“

„Fort!“ flüsterte sie, indem sie beide Arme gegen ihn ausstreckte, als wolle sie ihn verhindern näher zu treten. „Fort, um Gottes Barmherzigkeit willen! Sie stürzen sich und mich in’s Verderben! Was wollen Sie hier?“

Der Graf trat noch näher. „Ich soll fort?“ rief er. „Aber Sie selbst haben mich ja gerufen, Prinzessin.“

„Fort!“ wiederholte sie, indem sie ängstlich und dringend nach der Thüre wies. „Entfernen Sie sich!“

Königsmark ballte wie in Verzweiflung seine Hände. „Aber haben Sie mir denn nicht diese Zeilen gesendet, worin Sie mich anflehen, ich solle hierherkommen, um Sie zu retten?“

„Ja doch!“ keuchte Sophie Dorothea, indem sie seine beiden Hände faßte. „Ja doch, ich habe es geschrieben, aber er hat mich gezwungen – er hat mich genöthigt diesen unseligen Brief zu schreiben, um uns Beide zu verderben!“

„Er hat Sie gezwungen!“ rief Königsmark, indem sich ein schrecklicher Gedanke in seinen entsetzten Zügen malte.

„Ja – ja! – Begreifen Sie denn nicht, daß man Sie in eine Falle gelockt hat – daß man uns verderben will?“

„Eine Falle?“ schreit Philipp mit einem verächtlichen Blicke, während er an seinen Degen greift. „Und Sie ließen sich zwingen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_613.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)