Seite:Die Gartenlaube (1862) 594.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Sophie Dorothea befand sich, wie gesagt, bei ihrer Freundin, und die beiden Frauen sprachen angelegentlich mit einander. Das Licht der Lampe wurde durch einen farbigen Schleier gedämpft, die Vorhänge der Fenster waren herabgelassen. Frau von Nassau hielt ein Billet in der Hand, welches sie nun schon zum vierten Mal las.

„Nun, was sagen Sie dazu, Johanna?“ fragte Sophie, indem sie sich mit fieberhafter Ungeduld von ihrem Sitze erhob. „Was halten Sie von diesem Schreiben, welches ich heute in meiner Bonbonniere fand ? Halten Sie es für eine Falle, für einen Scherz oder für eine Gnade des Himmels?“

Frau von Nassau schüttelte das Haupt und las wiederholt die folgenden Zeilen:

„Die Herzogin von C. will ihrer Tochter die Mittel an die Hand geben, zu ihr zurückzukehren. Ein Abgesandter derselben wird heut Abend zwischen der achten und neunten Stunde in den Gemächern der Frau von Nassau erscheinen.“

„Nun?“ fragte Sophie.

Frau von Nassau schüttelte den Kopf. „Dieser Brief ist keine Falle,“ sagte sie, „denn was könnte die bezwecken? Es ist auch kein Scherz. Es ist also ganz einfach ein Avertissement, welchem Folge zu leisten Sie recht thaten, Durchlaucht.“

„Sie glauben also, daß wir den unbekannten Abgesandten empfangen sollen?“

„Gewiß.“

„Aber …“

„Und was fürchten Sie, Prinzessin? Ich denke wohl, Sie haben Alles zu gewinnen und Nichts mehr zu verlieren.“

„Aber sind wir hier auch sicher, Gräfin?“

„Unbesorgt, Durchlaucht. Sie wissen ja, wie sehr dieser Flügel des Schlosses gemieden wird, während die Appartements des Kurfürsten um die Abendzeit Alles, was im Schlosse lebt und athmet, anziehen, wie der Magnet das Eisen.“

„Oder wie das Licht die Motten,“ flüsterte Sophie.

„Also Muth, Muth!“

„O wie mir das Herz pocht, Johanna! Ich wage kaum zu glauben, daß ich noch einmal so glücklich sein sollte, aus diesen Fesseln befreit zu werden! Der Gedanke, meine gute Mutter, mein liebes Celle, meine grünen Wälder, mein liebes Gärtchen wiederzusehen, macht mich trunken vor Freude! O, ich dachte schon, daß auch meine Mutter mich verlassen habe, da ich auf meine vielen Briefe keine Antwort erhielt – aber jetzt – jetzt –“

„Jetzt soll sich endlich Ihr Schicksal entscheiden!“ lächelte die Nassau, indem sie auf die Pendeluhr blickte. „Die Zeit ist da, und ich will meinem Wachtposten den Befehl geben, den unbekannten Abgesandten … Ah!“

Die beiden Frauen wandten sich zugleich um, denn ein leises Geräusch wurde an der Thüre hörbar.

„Herr von Königsmark!“ rief Sophie halb erstaunt, halb zürnend, während die Nassau einen Schrei der Ueberraschung ausstieß.

Königsmark näherte sich mit seinem reizendsten Lächeln der Prinzessin und beugte ein Knie vor ihr.

Sophie wich einen Schritt zurück und machte eine Bewegung der Ungeduld. „Sie hier, Herr von Königsmark? Welche Kühnheit oder welche Unverschämtheit! Was wollen Sie hier? Was suchen Sie hier? Entfernen Sie sich auf der Stelle!“

Philipp streckte flehend die Hände nach ihr aus. „Hören Sie mich! hören Sie mich, Prinzessin!“ rief er. „Es ist nicht der Graf von Königsmark, der leichtsinnige Abenteurer, welcher vor Ihnen kniet, es ist ein ergebener Freund und Diener, welcher bereit ist, Ihnen sein Leben, sein Blut zu weihen!“

„Mein Herr!“

„Leben! Blut! Das sind große Worte, werden Sie sagen. Aber hier sind sie an ihrer rechten Stelle. Eine Ergebenheit, die man Ihnen hier an diesem Hofe beweist, ist gefährlich – ein Dienst, den man Ihnen leistet, kann tödtlich werden …“

„Genug, genug, mein Herr!“ rief Sophie. „Enden Sie diesen unzeitigen Scherz. Sie suchen wohl ein neues Abenteuer und wollen mich in Ihrer unverschämten Eitelkeit zur Heldin desselben machen? Noch einmal, entfernen Sie sich!“

Königsmark faltete flehend seine Hände. „Hören Sie mich, Prinzessin, und stoßen Sie mich nicht so von sich! Sind Sie denn so reich an treuen, ergebenen Herzen, daß es Ihnen auf eins mehr oder weniger nicht ankommt? Sind denn Ihre Freunde so zahlreich?“

Sophie lächelte bitter. „Freund!“ rief sie. „Ich sollte einen Freund haben!“

Königsmark antwortete nicht, aber er faltete seine Hände, und aus seinen Augen sprach so viel Hingebung, Liebe und Mitleid, daß das Herz der armen Fürstin diese stumme Sprache verstand und sie verwirrt den Blick senkte.

„Ach!“ sagte sie mit einem Seufzer der Verzweiflung und der Bitterkeit. „Spielen wir keine Komödie, Graf, und entfernen Sie sich!“

„Eine Komödie?“ rief Königsmark. „Eine Komödie, Madame? – Ah, Sie wollen mir also nicht glauben? Sie hassen mich, weil ich ein leichtsinniger Gefährte Ihres Gemahls, ein berüchtigter Lebemann bin, nicht wahr? – – Sie glauben nicht daran, daß dieses Leben hinter mir liegt. Als ich Sie neulich erhaben und zürnend gleich einer Rachegöttin vor mir stehen sah, als ich den Schmerzensschrei und die Anklage hörte, die Ihr armes, gequältes Herz dem Prinzen in’s Gesicht schleuderte, da wurde es klar in mir und um mich. Der falsche Schimmer und der trügerische Glanz, welcher meine ganze bisherige Umgebung schmückte, verschwand. Die Nichtigkeit und die Abgeschmacktheit dieses ganzen Treibens stand plötzlich in ihrer ganzen Nacktheit vor meinen Augen. Ekel und Ueberdruß erfüllten mich, und unter all den Truggestalten dieses Hofes erschienen Sie mir als die einzige und echte Majestät. Und seitdem habe ich kein anderes Sehnen, kein Streben mehr, als Ihnen zu dienen und Ihnen mein ganzes Dasein zu weihen! Mein Gott, was soll ich Ihnen denn noch sagen, daß Sie mir glauben?!“

Die Prinzessin lächelte bitter. „Nein,“ sagte sie. „Nein, ich glaube an kein Mitleid mehr!“

„Ah!“ rief Königsmark, indem er in wilder Aufregung die Arme ausbreitete und sich halb erhob. „Sie wollen nicht an mein Mitleid glauben? Nun, dann glauben Sie an meine Liebe!“

Sophie stieß einen Schrei aus und wandte ihm ihr drohendes, zürnendes Antlitz zu.

„Ja, an meine Liebe!“ wiederholte der Graf immer aufgeregter. „Nicht diesen bösen, zürnenden Blick! Es ist weder eine Komödie, die ich hier spiele, noch eine Beleidigung, die ich Ihnen anthun will! Ich weiß wohl, daß ich das Erste und das Zweite alltäglich in den Gelagen debitirt habe, die meine Sinne berauschten und mein Herz betäubten – und Sie glauben jetzt wohl, daß Philipp von Königsmark keiner wahren Liebe mehr fähig ist? –Aber meine Seele hat sich frei gemacht von den Banden des Leibes, und mein Herz ist erwacht aus seinem Todesschlafe, und ich liebe! – Ich kam an diesen Hof, um hier Zerstreuung und Intriguen zu finden oder, falls solche fehlten, dergleichen zu schaffen. Ich warf mich mit geschlossenen Augen und geöffneten Armen in den Strudel der Ausschweifungen, welche an diesem Hofe um so infamer sind, als sie sich in den Schooß der äußerlich ehrenwerthesten Familien flüchten und unter dem Deckmantel eines fürstlichen Wappens oder einer geistlichen Würde ausgeführt werden. Mein ganzes vergangenes Leben war ein Rausch gewesen, dessen hundertfältige Variationen mich in einem ewigen Verlangen, in einem ewigen Durste erhielten, den Nichts zu stillen vermochte. Aber ein solcher Rausch kann nicht ein ganzes Leben hindurch dauern: es kommt immer ein Augenblick, wo der Mann erwacht und wo dem verwöhnten Gaumen keine Pikanterie, dem verkohlten Herzen keine Wollust, der versumpften Seele kein Raffinement des Vergnügens mehr munden will – das ist dann die Blasirtheit. Dann wendet man den trüben, suchenden Blick nach einer höheren, reineren Sphäre – das Herz schreit nach Liebe, nach wahrer, heiliger Liebe, und die Seele lechzt nach einer Seele, welche uns zu erheben vermag –! Und hat man dann ein solches Wesen, eine solche Seele gefunden, dann ist man gerettet! Die Statue wird ein Mensch, und es giebt da keinen Aufenthalt, keinen Widerstand mehr. Man athmet mit den vollsten Zügen die neue, reine Liebesluft ein, man schlürft mit dem sehnsüchtigen, trunkenen Auge die Strahlen der neu erstandenen Lebenssonne ein, man begehrt, man fühlt, man lebt, man liebt! – Und so erging es mir. Ich sah Sie, Prinzessin – Sie, die Reine, die Heilige, mitten in dem Sumpf meiner Umgebung – ich sah Sie in Ihrem erhabenen Zorne, in all Ihrer Würde und Majestät, als Sie mich neulich von sich wiesen geblendet – schloß ich mein Auge, denn

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_594.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)