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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

hielt, das Urtheil aber suspendirt, da die Käfer plötzlich verschwanden. Aber nach 42 Jahren, 1587, erschienen sie aufs Neue. Die Gemeindebehörden strengten abermals den Proceß beim Generalvicar des Bischofs der Maurienne an, der sogleich den Käfern einen Sachwalter und einen Advocaten ernannte, zugleich aber ein Kreisschreiben an die Gläubigen ergehen ließ, worin er öffentliche Gebete und Prozessionen empfahl und zugleich dem Volke auseinandersetzte, daß diese Plage eine Strafe des Himmels für die unregelmäßige Entrichtung der Zehnten sei und daß sie derselben in Zukunft entgehen könnten, wenn sie Zehnten und geistliche Gefälle pünktlich und reichlich bezahlen würden. Der Proceß ging unterdessen seinen gemessenen Gang fort. Es wurde hin- und herplaidirt, und da der Anwalt der Käfer das Recht zum Leben für seine Clienten, die auch Geschöpfe Gottes seien, in Anspruch nahm, so beriefen die Bürgermeister die Bürger von St. Julien zu öffentlicher Versammlung auf den Platz, wo sie auseinander setzten, „wasmaßen es nöthig und nützlich sei, obbemeldeten Thieren hinreichenden Weide- und Nährplatz außerhalb der Weinberge von St. Julien anzuweisen, damit sie dort leben könnten, ohne genöthigt zu sein, besagte Weinberge aufzufressen und zu verwüsten.“

Die Bürger boten hierauf einstimmig den Insecten ein Stück Gemeindeland von etwa 50 Morgen an, „wovon die Herren Sachwalter und Prokuratoren der Thiere ein Einsehen nehmen und sich begnügen möchten, wasmaßen besagtes Feld mit manchen Sorten Holz, Pflanzen und Kräuter bewachsen, als da sind: Elsbeeren, Kirschen, Eichen, Buchen, Eschen und andere Bäume und Gesträuche, sowie schönes Gras und Weide in ausreichender Menge.“ Bei diesem Anerbieten behielten sich aber die Einwohner von St. Julien das Recht vor, über das Stück Land, welches sie abtreten, passiren zu dürfen, „ohne daß sie indeß damit der Nahrung der Käfer in irgend einer Weise Abbruch thun wollten. Da aber dieser Ort ein sicherer Zufluchtsort in Kriegszeiten ist und gute Brunnen hat, deren sich die Käfer ebenfalls bedienen können, so behalten sich die Bewohner ferner das Recht vor, in Zeiten der Noth und Bedrängniß dorthin flüchten zu dürfen, versprechen aber jedenfalls unter bemeldeten Bedingungen über die Abtretung des Stück Landes einen Vertrag in guter Form und für alle Zeiten gültig ausfertigen zu lassen.“

(Schluß folgt.)


Die neueste Luftfahrt in Deutschland.
Dargestellt von Dr. W. Pitschner.
(Schluß.)

Noch einige Augenblicke verfolgen wir den Ballon bei seiner Abfahrt. In einem eigenthümlichen Gefühl von Sinnesberauschung durchschnitten wir, nach NNO. hinaussegelnd, während eines Zeitraumes von kaum zwei Minuten die Wolken der untern Luftströmung und tauchten alsdann bei einer Höhe von 1600 Fuß in die zweite zunächstliegende Luftschicht auf, welche dem Ballon die Richtung nach NW. anwies. Auch in diesen Wellen war die Steigkraft eine sehr bedeutende, denn das Aneroidbarometer sank mit sichtbarer Schnelligkeit während der ersten fünf Minuten nach dem Moment der Abfahrt auf 24,8 Par. Linien und verkündigte dadurch, daß wir bereits, im Niveau des Brocken-Gipfels schwebend, eine Höhe von beinahe vierthalbtausend Fuß erreicht hatten.

Welch belebender und überraschender Contrast in den Dimensionsverhältnissen des Horizontes! Auf dem Schauplatze der Abfahrt war uns ein Ueberblick über kaum 1/8 Quadratmeile möglich, und hier in den Wogen des Luftmeeres lag nach so wenigen Minuten ein Rundgemälde von mehr denn 800 Quadratmeilen vor uns. Sechszehn Meilen weit nach Nord, Süd, Ost und West schweifte der Blick umher, wo sich ihm nicht trübe Wolken hindernd entgegenstellten.

Gern verweilte ich länger bei diesem in jeder Secunde anwachsenden Riesentableau mit seinen vom mildern Abendlicht der Sonne übergossenen Städten und Dörfern, Wäldern und Feldern, Flüssen und Seen; die eigenthümliche panoramische Wirkung desselben soll ihre Schilderung später finden, wenn wir auf dem mehr als 7000 Fuß höher liegenden Gipfelpunkte der ganzen Fahrt angelangt sind. Wir segelten weiter, in NW.-Richtung beharrend. Das Stillschweigen, welches die Schönheit des Schauspiels in den ersten Minuten hervorgerufen hatte, hörte auf. Laute Empfindungen brachen in kurzen Worten des Staunens und der Bewunderung aus unsrer freudig überraschten Seele hervor – und diese Empfindungen begleiteten uns, kettenartig und in gesteigertem Grade sich aneinander reihend, bis zu den Schreckensminuten der Niederfahrt. Mit den Gefühlen einer märchenhaften Wirklichkeit, welche uns während der ganzen Reise umfangen hielt, verband sich schon nach Ablauf der ersten Viertelstunde eine auffallende Sinnestäuschung rücksichtlich der Fortbewegung unseres Fahrzeuges, sowohl der wagerechten als auch der senkrechten.

Du wähnst, frei im Raume schwebend, festgebannt zu sein. Unter Deinen Füßen scheinen im tiefen Abgrunde die Erdlandschaften kreisbildartig abgerollt und beweglich Dir dargestellt zu werden. Eine überraschende Wirkung des Ballon-Panoramas! Auge und Ohr vernehmen nichts von der reißenden Bewegung, mit der Du in Windes-, ja in Sturmeseile dahinziehst, denn Du schwimmst in gleicher Geschwindigkeit mit den unsichtbar atomistischen Lufttheilchen. Bei dieser scheinbaren Unbeweglichkeit der Luft ist die directe Bewegung des Ballons nur dann wahrnehmbar, wenn das Auge im größern Umkreise oder in senkrechter Richtung nach unten einen festen Gegenstand fixirt und einige Minuten lang betrachtet. Die Geschwindigkeit des Windes, die Bewegung seiner unsichtbaren Lufttheilchen erhält demnach in den Luftschiffen einen sichern Maßstab zu ihrer Beurtheilung. Der Luftballon wird zum Anemometer (Windmesser).

Was nunmehr die mittlere Geschwindigkeit der Luftströmungen anbetrifft, in denen wir fuhren, so ergiebt sich dieselbe, nach Abzug der zurückgelegten Krümmungen beim Steigen und Fallen, aus dem Verhältniß des geraden Weges zu der darauf verwendeten Zeit. Die Fahrt währte 80 Minuten; wir brachten 61 Minuten in den obern Luftströmungen zu. Das Steigen und Fallen dauerte 11 Minuten, während der Wind in einem Zeitraum von 50 Minuten einen geraden Weg von beinahe 5 Meilen zurücklegte, woraus sich eine Geschwindigkeit von 40 Fuß in einer Secunde ergiebt, das ist die vierfache Geschwindigkeit des gewöhnlichen Windes. Auf meiner ersten Luftreise am 13. Juli 1858 ergab sich bei fast vollkommener Windstille in der untern Luftschicht die mittlere Geschwindigkeit der obern Luftströmungen sogar fünf Mal so groß, als die des gewöhnlichen Windes, und dennoch schien auch damals der Ballon in fast vollkommener Ruhe sich zu befinden.

Aber auch die senkrechte Bewegung, wie bereits erwähnt, das Steigen und Fallen des Ballons, ist für die Augen und für das Gefühl nicht wahrnehmbar; ja, es geht in diesem Falle sogar der einzig sichere Maßstab, die Fixirung eines festen irdischen Punktes, verloren. So kann der Luftschiffer bei vortrefflicher Ausstattung seines Ballons, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, in ungewöhnliche Höhen steigen oder unvorbereitet landen. So alt die Luftfahrten sind, so lange bedienen sich ihre kühnen Jünger eines einfachen Barometers, das ihnen freilich in den meisten Fällen, ohne jegliche Höhenangabe, nur Kunde von dem Steigen oder Fallen des Ballons giebt.

Es werden zu dem Ende Papierstückchen von der Größe eines Thalers über den Rand der Gondel geworfen; wenn dieselben hinabsinken, so schließt der Luftschiffer daraus auf das Steigen des Ballons, und umgekehrt, wenn die Papierstückchen sich erheben, so erblickt er darin die Anzeige vom Fallen desselben. Während meiner beiden Luftfahrten habe ich mich aber von der Unsicherheit dieser Schlüsse vollkommen überzeugt; denn es entging mir die Beobachtung nicht, daß der Ballon bei rückwärts schreitendem Zeiger auf dem Aneroid zu sinken anfing, wiewohl die hinabfallenden Papierstückchen auf sein Steigen hindeuteten. Unter diesen Umständen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_585.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)