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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

– meinte der neben ihm stehende Tyroler: „Dein Vaterland muß größer sein“; wir könnten Ihnen die reizende Scene der Verbrüderung unserer Turnerknaben mit den schweizerischen Cadettentrommlern näher ausmalen, und ebenso, wie des sächsischen Amnestirten Röckel blühende Tochter ihrem Vater um den Hals fiel, als Karl Grün seiner in seiner Rede auf die Todten gedachte – doch wir wollen Ihre Geduld nicht länger auf die Probe stellen und über dem Einzelnen nicht das Ganze vergessen.

Die deutsche Gemüthlichkeit, von der wir heute allerlei Pröbchen gegeben haben, thut’s allein nicht mehr. Das fühlen wir Alle – aber indem wir neue Eigenschaften uns zu erwerben trachten, wollen wir die alten nicht verlieren.






Ein romantisches Gebirgsräthsel des mittlern Deutschlands.

Von Ludwig Storch.


Seit die Gebrüder Grimm uns das mystische Gebiet des Volksglaubens und der Volkssage erschlossen, enthüllt sich uns eine ganz neue Welt, die in der Morgenfrühe unseres Volkslebens im Nebel der Vergessenheit lag; das scheinbar Unbedeutende und Widersinnige gewinnt Bedeutung und Zusammenhang mit der allgemeinen Strömung des Deutschthums, und aus mißachteten und verhöhnten Sagen und Erinnerungen entwickeln sich überraschende Klarsichten über ganz vernachlässigte Partien dieses unseres Volksthums und seiner eigenthümlichen Gestaltung im Laufe der Geschichte. Je mehr der Aberglaube und die Volkssage an ihrer moralischen Wichtigkeit verlieren, desto mehr gewinnen sie zu gleicher Zeit an kulturhistorischer, und das Auge, das über die in ihm sich kundgebende Volksnaivetät lächelt, wird entzückt von den aus ihm hervortretenden Spuren specifisch deutscher Sitte, Denk- und Handlungsweise.

Eine höchst seltsame, räthselhafte, von der Forschung fast noch gar nicht beachtete und deshalb auch noch nicht erklärte Erscheinung im Volksleben der Gebirgsbewohner des mittlern Deutschlands sind die in der Volkssage so lebendig und drastisch auftretenden fremdländischen Metallurgen, Rhabdomanten und Adepten, kurz jene romantischen und geheimnißvollen Goldschürfer, welche entweder „Venetianer“ oder „Walen“ genannt, oder auch mit beiden Namen zugleich belegt werden, deren Spuren sich zurück bis über das zwölfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung verfolgen lassen, und die erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von den Schauplätzen ihrer Wirksamkeit verschwunden sind. Die Gebirge, in welchen sie ihr mysteriöses Wesen vorzugsweise trieben, und in deren Sagen sie deshalb noch so frisch und farbig fortleben, sind, so weit mir bekannt geworden, der Thüringerwald, das Fichtelgebirge und der Baier- und Böhmerwald. Auch im Harz sollen sie vorgekommen sein, doch habe ich dafür keine Anhaltepunkte. Ob ihre Existenz auch in andern deutschen Gebirgen sicher nachzuweisen ist, muß anderweitiger Forschung überlassen bleiben.

Sie treten im ganzen Thüringer Walde auf, zumeist an dessen Knotenpunkten, am Inselsberg und am Schneekopf, und im ganzen Gebirge heißen sie „Venetianer“. Den Namen „Walen“ kennt man hier nicht. Aber weit schärfer und individueller ausgeprägt als im Thüringerwald ist ihre Physiognomie im Fichtelgebirge, und hier heißen sie vorzugsweise „Walen“. Matter und verschwommener wird ihre Gestalt wieder in der Oberpfalz und in den böhmischen Bergen. Ueber die Donau hinüber kennt man sie nicht, aber in Regensburg, der uralten Römercolonie, steht gleichsam ihr Schluß- und Denkstein in der Wallerstraße, im Mittelalter „Walenstraße“ genannt, einer der schönsten und von je bedeutendsten Verkehrswege der einst so reichen Stadt. In dieser Straße wohnten die geschickten und weltberühmten wälschen Goldschmiede.

Wer waren diese Leute, die in der Volkssage zwar einen mythischen Anstrich erhalten haben, deren wirkliche, menschliche Existenz aber über allen Zweifel erhaben ist? Was trieben sie in unsern Gebirgen? Und wie kamen sie zu diesem seltsamen Doppelnamen?

Sie waren Fremdlinge, nicht in diesen Bergen Geborne, nicht da Aufgewachsene, nicht da Heimische. Sie trugen fremdländische Kleidung, sie sprachen eine fremde Sprache. Von Zeit zu Zeit erschienen sie auf geheimnißvolle Weise in spärlicher Anzahl; sie ließen sich mit der heimischen Bevölkerung so wenig als möglich ein, umhüllten sich und ihr Thun und Treiben mit dem tiefsten Schleier des Geheimnisses und benutzten dazu alte furchterregende Volkssagen; sie hantirten nur bei Nacht und nicht ohne ausgestellte Wachen, so daß sie nicht leicht bei ihrer Arbeit überrascht werden konnten, und verschwanden nach einiger Zeit wieder ebenso plötzlich und auf so seltsame Weise, wie sie erschienen waren. – Da tritt uns denn zuerst das altdeutsche Wort Walah, altnordisch Wal, ein Fremder, Ausländer, entgegen. Walise, wälsch war alles Fremdländische, und da das deutsche W in den romanischen Sprachen stets in G umlautet (z. B. Welfen und Waiblinger in Guelfen und Gyibellinen; Wilhelm in Guilelme etc.), so ist doch wohl Wale und Walle, auch Waller (alle diese Wortformen kommen vor) und Gallier ein und derselbe Name. Wallonen, Walliser, Waleser und Gälen sind immer derselbe Name in verschiedener Umlautung. Der Name Walen bedeutet also nichts weiter als Fremdlinge.

Was aber ist mit dem Namen Venetianer anzufangen? Alle Volkssagen der genannten Gebirge weisen auf die reiche, stolze und mächtige Handelsrepublik auf den Laguneninseln hin. Dort sollen die „Walen“ unserer Berge als geschickte Goldschmiede in einer eignen Straße gewohnt haben, gerade wie in Regensburg. Sie waren nicht romanischen Stammes, sie bildeten einen Volksstamm für sich. Sehr charakteristisch ist, daß sie stets nur mit Gold zu thun haben. Mit anderem Metall befassen sie sich nicht. In unsern Bergen suchen und finden sie nur Gold, in Regensburg und Venedig sind sie nur Goldschmiede. Auf überraschende Weise stimmt damit nun eine Angabe des älteren Plinius in seiner Naturgeschichte überein. Im 11. Capitel des 6. Buches dieses Werkes wird nämlich berichtet, daß „vor den Pforten des Kaukasus durch die gordyäischen Berge die Wallen und Swarnen (Valli, Suarni), freie Völkerschaften, wohnen, die nur auf Gold schürfen.“ An einer andern Stelle (6. 7) nennt Plinius die Walen mit den Serben und andern nicht mehr bekannten Volksstämmen zusammen, die am kimmerischen Bosporus und am schwarzen und asowischen Meere wohnten, und bezeichnet die Sarmaten als ihre Nachbarn. Endlich nennt derselbe Schriftsteller mit den Sarmaten und andern Völkerschaften auch die Veneden (Venedi). Dieser letztere slavische Volksstamm war wahrscheinlich mit den Venetern im nordöstlichen Italien verwandt, welche die Begründer Venedigs wurden; ja, es ist sehr wahrscheinlich, daß der Name Veneder oder Wenden der Collectivname aller slavischen Stämme in Deutschland war.

Die Walen setzten sich mit den Venedern, aus Vorderasien ausgewandert, im Fichtelgebirge fest, dessen Goldreichthum sie zuerst entdeckten. Vom Fichtelgebirge aus verbreiteten sie sich nördlich im Thüringerwald, südlich im Baier- und Böhmerwald, oder besuchten wenigstens diese Gegenden periodisch, dem Goldreichthum der Berge nachspürend. Mit ihnen theilten die Kelten, die Hauptbesitzer des Landes, die Neigung zum Bergbau, nur daß letztere auf alle Metalle schürften.

Mit den Kelten theilte sich ein anderes mächtiges Volk verschiedenen Ursprungs und Charakters in den Besitz des Landes, die durch ihre riesige Größe vor den kleingestalteten Kelten und Walen hervorragenden Tschuden. Dem gewaltigen Anpralle der ebenfalls von Hochasien in ungezählten Schaaren heranziehenden germanischen Völkerschaften erlagen alle frühern Bewohner der Länder von der Ostsee bis zu den Alpen. Die Römer waren zum Theil schon Herren der Länderstriche am Rhein und an der Donau, und die weniger kriegerischen als gewerbfleißigen Kelten ihnen bereits unterworfen. Die Tschuden und Römer wichen vor der wilden Uebermacht der Germanen zurück und die erstern verschwinden; die Kelten unterwerfen sich abermals. Die kleinen Volksstämme wie die Walen und Veneder verstecken sich in die unzugänglichen Berge, bis sie, auch aus diesen Schlupfwinkeln vertrieben, weiter und weiter nach Süden wandern und mit den uralten Venetern verschmelzen.

Aber nun leben alle diese frühern unterlegnen und vertriebnen Besitzer des Landes in der deutschen Volkssage wieder auf und spielen, die Tschuden und Römer (die Erbauer der starken Burgen) als Riesen, die Kelten und Walen als Zwerge, ihre mythische-elbische bedeutsame Rolle. Ihr geschichtliches Schicksal wird von der Sage in seinen Grundzügen treu wiedergegeben, aber mythisch-phantastisch ausgeschmückt. In nebelhaften Hintergrund treten die Riesen, in den hellern Vordergrund die Zwerge. Diese werden zu fleißigen Haus- und Feldgeistern, und der ganze, fast übergeile Reichthum der Zwergensage gaukelt nun im phantastischen Arabeskenschmuck

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_559.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)