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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Frankfurt vergessen? Wenn es nur nicht sein Herz ist! In komischer Verzweiflung ruft er aus: „Es thut’s nit, es thut’s nit! I geh holt nimmer hoam!“ und lenkt seine Schritte wieder den Zurückbleibenden zu, die ihn jubelnd wieder in ihre Mitte nahmen und gen Frankfurt geleiteten. Und acht Tage später versuchte er wieder einmal abzureisen und war auch schon eingestiegen – aber es ging wieder nicht. Noch lange nachher blieb sein steter Wahlspruch: „I geh holt nimmer hoam!“ O, gäbe es schon Freizügigkeit in Deutschland, er hätte ihn gewiß auch zur Wahrheit gemacht. Denn, er wiederholte es selbst zum Oefteren: „Durch Begeisterung vom Schützenfest wäre er gar gerne Bürger in Frankfurt geworden.“ Durch Begeisterung allein aber wird man dermalen noch nicht Bürger in Frankfurt, eher durch eine Heirath, und auf dieser solideren Basis stehen denn auch wirklich bereits einige auswärtige Schützenbrüder ihr Frankfurter Bürgerrecht aufzubauen im Begriff. Sie wollen sich durch den eigenen Augenschein überzeugen, ob die Frankfurter Frauen ebenso liebenswürdig sind, als die Frankfurter Mädchen, und ob sie es bleiben, wenn sie ihre Frauen sind. Möge der deutsche Einheitsgedanke, unter dessen directer Inspiration die Verlobung stattfand, sich in der Ehe nachhaltig erweisen!

Aber nicht alle Festflammen fanden sich so zu einem legitimen Brande für’s Leben zusammen. Wir sahen die verlockendsten Anträge zurückweisen. Eines Abends kniete in der Festhalle vor einer sehr liebenswürdigen Dame wieder ein „Stanni“ nieder – sie versicherte uns nachher, wahrscheinlich um die Sache romantischer zu machen, es sei ein Enkel Andreas Hofer’s gewesen – und bat sie flehentlich um ihren Strauß. „Schau, hier ist Edelweiß auf meinem Hut. I bin zwei Stunden hoch hinauf gestiegen, bis i ’s im Eis funden hab. I geb Dir dös Edelweiß, gieb mir Dei Straußerl. I möcht’s halt mit heima nehm, dös Straußerl.“ Und als die Dame den Tauschhandel eingegangen war, war er noch nicht zufrieden, sondern rief plötzlich aus: „Weißt was, Schatzerl, geh sölber mit!“ Und als sie ihn fragte, was sie bei ihm zu erwarten habe, meinte er: „Nix als Freid. Den Tag über was Guts zu essen und am Abend was Guts zu schmatzen!“ Und Stanni schien nicht abgeneigt, Proben seines Talentes abzulegen. Er wurde immer wärmer und wärmer, bis ihm die Dame und Schützenschwester in’s Gedächtniß zurückrief: „Ritter, treue Schwesterliebe widmet Dir dies Herz.“

So drehte sich gar manche Scene um die Tyroler und ihre sprichwörtlich gewordene Naivetät. Die Schützen hatten sie durch ihre Kernschüsse erobert, die Mädchen und die Maler durch ihre kleidsame Tracht und ihr treuherziges Wesen, und die Gemüthlichen durch ihre Lieder. Wo ihrer ein paar beisammen waren, bildeten sich Gruppen um sie, und sie wurden aufgefordert, ihren „Tyroler Schmerzensschrei“ (d. h. ihre Jodler) ertönen zu lassen. Und sie sprangen auf die Tische und sangen:

„Frankfurt, Du, Du bist mei Freid!
Da hab’n d’ Madele sakrisch Schneid! (Und ein Jodler drauf!)
Zwar giebt’s ka Gamslen zum Derjagen,
Aber Becher zum Vertragen.“ (Wieder ein Jodler!)

Dann warfen sie ihre Hüte hoch, und die Damen schwenkten ihre Taschentücher, und Alles war ein Herz und eine Seele.

Einmal trat ein Tyroler zum Herzog von Coburg und sagte zu ihm: „Glab’s nit, Herzog, was sie Dir über uns weiß macht haben. Komm nur zu uns, Du wirst noch lang nit tod schossen!“ Und als ihn Einer zur Rede stellte, wie er den Herzog habe Du nennen können, meinte er: „Ja, i hätt halt gern Sie sagt, aber i hab mi’s nit traut!“

Aber die Medaille hatte auch ihre Kehrseite, der Tyrolercultus, wie er uns zum Vorwurf gemacht ward, auch sein Bedenkliches. Man vergaß ganz, daß diese jetzt fraternisirenden Festschützen Kinder desselben Landes Tyrol sind, wo man noch vor wenig Wochen Himmel und Hölle gegen die Zulassung von Protestanten in Bewegung gesetzt hatte; man vergaß, daß der Bischof von Brixen seiner Heerde, ehe er sie auf die Weide gehen ließ, erst Dispens für die Fasttage ertheilt hatte; man vergaß endlich, daß die urgemüthlichen Schmerzenskinder nicht nur von vier Feldkaplänen, sondern auch von zehn Polizeispitzeln sorgfältig überwacht wurden. Letzteres hat sich durch eine Scene auf der Bornheimer Haide zur Genüge herausgestellt. Ein Tyroler unterhielt sich in einer der Buden daselbst leise mit einem Frankfurter. Der Spitzel wollte es nicht leiden und suchte stets zu horchen und zu interveniren. Als er ernstlich gefragt wurde, mit welchem Rechte er sich in die Unterhaltung mische, suchte er zuerst allerlei Ausflüchte, dann aber, in die Enge getrieben, gestand er – er war überdies des süßen Weines nicht mehr leer – seine innere Mission ein. Als ihm in Folge davon sofort ziemlich unsanft zu einer Luftveränderung verholfen ward, rief der unglückliche Agent der kecken Ueberwachungsgarde noch unter der Thüre seinem Landsmanne zu: „Wart nur, wirst’s schon kriegen! Wir sind unser zehn. Und Preußen sind auch da!“

Ein andermal stand ein Trupp Tyroler vor dem zoologischen Garten. Sie wären gar zu gern hineingegangen, aber sie hatten ihrem Feldkaplan Rendezvous zur Messe gegeben, und da half kein Zureden. „Der Mensch muß doch Wort halten!“ sagte Einer, und leidmüthig zogen sie von dannen. Haben sie Euch denn je Wort gehalten, denen ihr so blind vertraut? Herr, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Sie sind zu lange in der Finsterniß gewandelt, um das ganze, das volle Licht, das von der Festhalle ausstrahlt, auf einmal vertragen zu können. Darum aber müssen sie öfters zu uns kommen und ohne geistliche und weltliche Feldkapläne. Darum aber auch müssen wir sie recht an uns zu ziehen und nicht von uns zu stoßen suchen! Dann wird’s schon besser gehen, und die Schützenfeste werden auch nach dieser Seite ihre Früchte tragen. Aber Geduld müssen wir freilich haben, viel Geduld! Denn sollte man’s für möglich halten, in der Nähe einer Stadt, in der man jetzt von den Erinnerungen an die beim Feste – wenn auch mitten unter Ketzern – verlebten Stunden schwelgt (in Schwaz bei Innsbruck), wäre der Gemeinderath vor wenig Tagen beinahe gesteinigt worden, weil er einen Protestanten aufnehmen wollte. Wie stimmt das zu dem herzlichen Abschied, Ihr Tyroler, den Ihr uns an der Eisenbahn in die Hand gedrückt habt?

Also, Ihr Tyroler, wenn wir Eure Herzlichkeit nicht für Grimasse, Euch selbst nicht für unmündige Kinder halten sollen, so sorgt dafür, daß Eure Worte und Eure Thaten eins werden.

Ohne daß wir’s wollen, hat unser Rückblick auf die kleinen gemüthlichen Episoden des Festes eine ausgesprochen tyrolische Färbung angenommen. Es ist das nicht unsere Schuld, sondern lediglich die der gemüthlichen Tyroler, die stets neuen Stoff zu Erzählungen aller Art gaben, die von Mund zu Mund liefen. Dabei fällt mir noch eine Geschichte ein, die auf der Heimreise der Tyroler in Nürnberg passirt ist. Hoffentlich haben wir Alle so viel gelernt, daß sie heute nicht mehr passiren könnte. Die Geschichte aber wird in den Zeitungen also erzählt:

Dem Waggon entstieg ein alter Tyroler in der Tracht des Pusterthales, ein durchwettertes joviales Gesicht mit eisengrauem dichten Lockenhaar und Bart, ein straffer Mann, kein Greis; noch prall schlossen die kurzen Ledernen um die Beine, das nackte Knie war rund und die Wade derb muskulös; sein Adlerblick richtete sich auf die Menge und begegnete dem ebenso durchdringenden eines freundlich behäbigen Greises mit Silberhaar. „Hast, bi Gott, ein Jägeraug!“ sprach der Tyroler ihn an; „warum warst nit mit in Frankfurt? Du schießt gewiß noch gut!“ „O ja, Anno Neun aber noch besser, da habe ich von Euch Manchen weggepfeffert.“ „Woas? Du? Warst mit unter den Blauen? Na, haben Euch tüchtig zusammengebuchst!“ „Das ist nit unwahr, an einem Tag aber net, da schossen wir ihrer Drei sieben von Euch zusammen, und doch standet Ihr oben und wir unten. Ich war einer von den Dreien.“ „Wo ist das gewesen, Brüderle?“ fragte der Tyroler sichtbar gespannt. „Bei Windisch-Materney; ich schoß den Gastwirth.“ „Todt geschossen hast ihn aber nit, Brüderle; schau her, ich bin’s noch!“ Und er zeigte die Narbe an Hals und Schulter, und dann schüttelten sich die alten Knaben herzlich lachend die Hände; der Tyroler küßte den Blauen und der Blaue den Tyroler, und Arm in Arm besahen sie sich die Lorenzkirche und tranken schwatzend manche Halbe, ich mit ihnen. Anton Köll, Gastwirth und Bauer, sagte beim Abschiede zu dem jetzt im Hospital versorgten Schneidermeister Zieger: „Hast recht, Brüderle; kommen wohl nit wieder z’ammen, so aber wie Anno damals gewiß nit; wußtens da nit anders, warst neunzehn und ich einundzwanzig; aber wenn ich auch noch mal wieder so jung wär, ich zerbräch den Stutzen, sollt ich auf einen deutschen Bruder schießen, das thu ich nimmer, das hab ich in Frankfurt gelernt; o was prächtige Leut da waren! Ich alter Schulbub von vierundsiebzig, und hier meine beiden Nachbarn (Athletengestalten in der ersten Mannesblüthe) auch.“

Wir könnten Ihnen auch noch die Anekdote von dem Preußen erzählen, der auf die Scheibe „Vaterland“ schoß, Nichts traf, denn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_558.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)