Seite:Die Gartenlaube (1862) 539.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


„Oh, the Lamb, the bleeding Lamb,
The Lamb upon Calvary etc“

erregte besonders den sarkastischen Widerspruch des Atheisten, der zwar offenbar schlechte Geschäfte in der „Wüste“ macht, aber mehr Humor und Kritik besitzt, als seine glücklicheren Rivalen. Er hat immer den aufmerksamsten Zuhörerkreis um sich. Das aber ist eben das Große der englischen Freiheit, daß die wühlerischesten Grundsätze im offenen Park gepredigt werden dürfen, und Staat, Religion und Gesellschaft sich nicht darum zu bekümmern brauchen. Den glänzendsten Beweis dafür liefert das englische Sectenwesen selbst.

Wie viel Secten es in England eigentlich giebt, ist schwer zu sagen; aber so viel wissen wir, daß kein Religionsstifter daran zu verzweifeln braucht, hier Gläubige zu finden, falls er im Artikel „Unsinn“ nur irgend welche nennenswerthe Concurrenz auszuhalten vermag. Der Mormonismus ergänzt sich vorzugsweise aus dem englischen „angeborenen Verstand“ (common sense); der religiösen Phantasie eines Geistlichen aus Wales verdankte Joe Smith die zum „Mormon“ umgestaltete Novelle. Dr. Cumming prophezeit den Untergang der Welt für 1867 in Büchern und von der Kanzel und ist einer der fashionablesten Prediger Londons, dessen gläubige Bewunderer sich namentlich in den höheren Ständen befinden. Ein Mr. Congreve hat vor Kurzem dem Comte’schen Cultus in Wandsworth einen Tempel eröffnet, und der ganze hierarchische Unsinn, zu dem sich der berühmte Philosoph in sonderbarer Abirrung von seinem Buchstabenglauben verleiten ließ, wird hier als ernsthafte Thatsache gepflegt. Der Platonist Mr. Taylor opferte in seinem Hinterstübchen zu Walworth dem Jupiter einen Widder, und wenn die Religion der Platonisten auch seitdem ausgestorben ist, so liegt dies wohl nur daran, daß Platonismus einen Aufwand von philosophischen Gedanken verlangt, der dem Vertriebe dieser Religion am hiesigen Markte nicht günstig sein konnte. Erweckungen, Tischrücken und Geisterklopferei, diese modernsten Offenbarungen unseres aufgeklärten Zeitgeistes, finden in keinem anderen Lande so viele Priester und Gläubige, als im freien Albion, dem Vaterlande Bacon’s und Locke’s, das noch Voltaire als das Paradies der skeptischen Aufklärung zu preisen vermochte. Dicht neben dem südlichen Districttempel der Mormonen „über dem Wasser“ that sich vor einiger Zeit eine neue Religion auf, deren Hauptglaubensartikel in der großen Trommel bestanden zu haben scheint und die deshalb so geräuschvoll wurde, daß die Polizei Auftrag erhielt, im Namen der Sabbathsordnung dagegen einzuschreiten; die Trommel lockte die Gläubigen herbei, und ein altes Weib machte sie selig, indem es ihnen unmittelbar von Gott empfangene Befehle mittheilte und sich – wie der denuncirende Constabler aussagte – in seiner Ekstase „zuweilen auf den Kopf stellte“. Ob diese interessante Religion noch existirt, wissen wir nicht; aber sollte sie auch dem Verbote der großen Trommel erlegen sein, so braucht der „common sense“ deshalb keineswegs an einer genügenden Zufuhr religiöser Nahrung zu verzweifeln.

Soeben ist hier ein Buch erschienen unter dem Titel: „Miranda. Ein Buch in drei Theilen: Seelen, Zahlen, Sterne. Mit Bestätigungen der alten und neuen Christuslehren, aus Wundern, die bisher in der Bibel unbemerkt geblieben sind, aus Thatsachen und Daten der Geschichte und aus Stellung und Bewegung der Himmelskörper. Gedruckt und verlegt von James Morgan, 48 Upper Marylebone-street, London.“ Der Verfasser dieses tiefen Werkes weist nach, daß sich die zweite Person der Dreieinigkeit bis auf den heutigen Tag in 49 Menschwerdungen offenbart habe. Die 49. fand statt am 20. April 1812 und hat ihre messianische Wirksamkeit mit der Herausgabe des vorliegenden Buchs begonnen. Die Aufgabe, welche diesem neusten und größten Messias geworden ist, besteht darin, alle bisher bestandenen Religionen zu einer einzigen zu vereinigen und auf den Cultus des Feuers zurückzuführen. Der Name dieser neuen und vollkommensten Religionsbekenner soll „O-Christians“ sein und mit dem Baue ihres Tempels, wofür das Buch sehr umständliche Anweisungen erhält, sofort begonnen werden, sobald die nöthigen Fonds gezeichnet sind. Sollte der fleischgewordene Messias des O-Christenthums nicht vor dem Beginn des Tempelbaues in’s Irrenhaus gesteckt werden, so können wir dieser neuen Religion eine blühende Zukunft versprechen, denn ihr Programm enthält eine Complication des Unsinns, die noch weit über das Mormonenthum hinausgeht und aus John Bull’s „angeborenen Verstand“ unwiderstehlich wirken muß.

Solche ungewöhnliche religiöse Leckerbissen sind jedoch vorzugsweise nach dem Geschmacke der ärmeren Classen, welche von den Gütern dieser Welt so wenig abbekommen haben, daß sie Gourmands nach den Gütern jener Welt geworden sind. Der respectable, d. h. reiche und angesehene Engländer ist gewöhnlich viel bescheidener in seinen religiösen Ansprüchen und begnügt sich mit seiner staatskirchlichen Orthodoxie. Je weniger ihn dieselbe zum selbstthätigen Denken auffordert, desto vollständiger entspricht sie seinen Bedürfnissen. Der deutsche Pietismus, der eine ungewöhnliche Gefühlserregung und zugleich ein gewisses theologisches Studium voraussetzt, hat hier kein Glück. Die anglicanische Dogmatik wird eigentlich auch von den Dissenters nicht angegriffen, die ganze Meinungsverschiedenheit bezieht sich auf die Form des Kirchenregiments. Seitdem die orthodoxe Reaction gegen den Gedanken des 18. Jahrhunderts, die in England am heftigsten und siegreichsten war, vollendete Thatsache geworden, fühlte sich der englische Clerus so zufriedengestellt in seinem von den herrschenden Classen getragenen Machtbesitze, daß er selbst die Theologie als überflüssig aufgab. Es befand sich kein Feind mehr im Felde, den er hätte bekämpfen müssen. Als daher die „Essayisten“ neuerdings die Resultate der deutschen Bibelkritik gegen ihn zu Felde führten, hatte er keine anderen Waffen gegen sie, als die Machtsprüche mittelalterlicher Gerichtshöfe, Inquisition und Ketzergesetze. Der deutsche Rationalismus entspricht in der That ebenso wenig als die philosophische Kritik dem Geiste des heutigen Englands.


Der Prairiebrand.
Von Balduin Möllhausen.

Als ich im Jahre 1852, nach langer einsamer Irrfahrt durch die schneebedeckten Steppen, den Missouri bei den Dörfern der Otoe- und Omaha-Indianer in halbverhungertem Zustande erreichte und mich einigen dort stationirten weißen Pelztauschern anschloß, vernahm ich viel über einen deutschen Künstler, der sich daselbst längere Zeit aufgehalten hatte und dann, in Verfolgung seiner weiteren nicht ungefährlichen Studien, den Missouri hinaufgegangen war. Die Eingeborenen erinnerten sich seiner mit einer gewissen Scheu, weil er es verstand, die „Seelen der Menschen auf das Papier zu zaubern“, und mehr noch weil einzelne der portraitirten Persönlichkeiten später von der Cholera hinweggerafft wurden. Jener Künstler war Fred. Kurz.[1] Ich kreuzte seinen Pfad und er den meinigen, ohne daß wir je zusammengetroffen wären.

Wenn Deutsche sich in fernen, fremden Landen begegnen (und Deutschland hat ja fast in jedem Winkel der Erde einige Vertreter aufzuweisen), so fühlen sie gewöhnlich Theilnahme für einander; selbst auch dann, wenn sie nur durch die Kunde mit einander bekannt wurden, erwacht ein gegenseitiges Interesse. Erfüllt von solcher Theilnahme liefere ich gern die Beschreibungen zu den Skizzen des talentvollen Fred. Kurz, doppelt gern, weil sie durch Wahrheit im Ausdruck, ja in jeder einzelnen Linie verrathen, wie der Künstler durch die in der freien, noch unentweihten Natur empfangenen Eindrücke zum Enthusiasmus hingerissen wurde, ohne sich bei der bildlichen Darstellung, wie so häufig geschieht, zu phantastischen Ausschmückungen und Ueberschreitungen verleiten zu lassen. So bei dem vorliegenden Prairiebrand. Nur wer selbst die grausige Gefahr des „eilenden Feuers“ kennen lernte, die von Entsetzen ergriffenen Geschöpfe, gleichviel ob Menschen oder Thiere, beobachtete, wie sie mit allen Zeichen tödtlicher Erschöpfung ihre Flucht zu bewerkstelligen suchten, und wie aus jedem ihrer Blicke, aus jeder ihrer Bewegungen ein stummes und doch so beredtes Flehen um Erbarmen sprach, nur der vermag, wie hier geschehen, im Bilde seine Erfahrungen so verständlich wiederzugeben.

Doch nicht immer, man darf sogar behaupten, in den wenigsten Fällen, tritt das entfesselte Element in so drohender Weise auf; denn nicht überall entsprießen dem Boden üppig und


  1. Rudolf Friedrich Kurz (1818–1871), Schweizer Maler
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_539.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)