Seite:Die Gartenlaube (1862) 537.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Prediger der Wüste.

Der Engländer, der mit seinem kühnen Unternehmungsgeiste, mit seinen industriellen Speculationen und kaufmännischen Berechnungen den ganzen Erdkreis umfaßt, der so rastlos arbeitet und ein Interesse so erfolgreich nach den fernsten Welttheilen hin verfolgt, fühlt das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit auf einen möglichst engen Kreis zu beschränken, sich in wohlthuender Gedankenlosigkeit zu erholen und die Süßigkeit des Nichtsthuns und Nichtsdenkens in seinen Kirchen zu genießen. Da hört er jeden Sonntag die lange, lange Liturgie, deren Worte ihm so vertraut geworden sind, daß sie allen Sinn für ihn verloren haben, und dann eine Predigt, die vom Geistlichen abgelesen wird und deren leidenschaftslose Gemeinplätze nicht im Stande sind, ihn in dem dolce far niente seiner Sonntagsruhe zu stören. Mehr bedarf er nicht. So entspricht der englische Sonntag, der namentlich den von der Industrieausstellung herbeigezogenen französischen Journalisten so unerträglich erscheint, einem thatsächlichen Bedürfnisse und ist wirklich eine nationale Institution. Wenn man lange in England gelebt und gearbeitet hat, so gewöhnt man sich an diese wohlthuende Sonntagsruhe, in der das ganze bürgerliche Leben stille steht und der allgemeine Geistes- und Körperschlummer durch kein Geräusch gestört und durch keine Aufregung unterbrochen wird, so sehr, daß man sie ungern vermissen würde. Der englische Sonntag ist nur in so weit langweilig, als die Langeweile zum englischen Comfort gehört. Ein Fremder kann an diesem Tage namentlich in London sehr interessante Lebensstudien machen.

Heute ist Sonntag und zwar ein Sonntag, wie er sein soll. Eine wohlthuende Mattigkeit senkt sich vom unbewölkten Himmel auf alle glücklichen, arbeitsfreien Wesen herab, kein Lüftchen regt sich in den Gesträuchen meines Gartens vor dem Hause, die Natur hält vor Vergnügen den Athem an, und nichts stört Dich im Genusse der süßen Langeweile, die auf heißen Sonnenstrahlen herniederfährt und dem auf seinen Lehnstuhl geworfenen Engländer ein Gebetbuch oder ein Zeitungsblatt in die Hand drückt. Nur das Gebimmel der Kirchenglocken belebt die Straßen mit stillen Feiertagsmenschen. Wer nicht zur Kirche geht, wie der Arbeiter, der Luft schöpfen muß, oder der Fremde, der seine Beine an das häufige Aufstehen und Niederknieen nicht gewöhnen kann, der schlendert in die Parks, in denen es auch Sonntag ist und wohin wir uns von dem Leser heute begleiten lassen wollen.

Wir sind auf dem Wege nach dem Hyde-Park, wo das Londoner Sonntagsleben seinen charakteristischsten Ausdruck zu finden pflegt. Während der Wochentage ist dieser öde, baumlose Park in den Händen der Aristokratie und ihres Gefolges von fashionablen Bummlern, Taschendieben und Flunkeys, wie man die Livréebedienten mit ihren stattlichen Puderzöpfen und hellfarbigen Plüschhosen zu nennen pflegt. Das Bischen Natur, das mit den aristokratischen Liebhabereien verträglich gefunden wird, ist durch allerhand Schnörkeleien zu etwas Besonderem gemacht worden. Die Bäume sind zu vereinzelt, um Schatten, und die Grasflächen zu vertreten und verstäubt, um Farbe gewähren zu können. Der Hyde-Park ist eben nichts als eine ungeheuere Rennbahn für die reitende und fahrende Aristokratie, ein Corso, dessen einziger Schmuck in eleganten Equipagen und Toiletten, in luxuriösen Pferden und Geschirren besteht. Uns ist dieser Park widerlich. Jeder Mensch, dem Du begegnest, sieht aus, als wolle er Dir die Uhr aus der Tasche stehlen oder habe Dich im Verdachte eines ähnlichen Anschlags auf seine eigenen Taschen. Natur, Grün und Waldeinsamkeit sind uns lieber als geschminkte Herzoginnen, gepuderte Flunkeys und silberne Pferdegeschirre; daher ziehen wir den benachbarten Kensington Garten dem Hyde-Park bedeutend vor.

Aber am Sonntag ist die ganze Physiognomie dieses Parks verändert. Das Volk hat Besitz von ihm ergriffen und betrachtet ihn als sein unbestrittenes Eigenthum. Nach allen Seiten über die ungeheuere Fläche hin wogen geputzte Arbeitermassen, die sich bei näherer Betrachtung in einzelne Familiengruppen auflösen. Frauen und Kinder müssen heute Luft schöpfen, nachdem sie die ganze Woche über in den dunstigen Gassen und Höfen von Mary-le-bone oder in der erstickenden Atmosphäre enger Werkstätten zugebracht haben. Wer hier Völker-Studien machen will, der findet reichlichen Stoff dazu. Da haben wir den vorkaiserlichen Franzosen, der schon durch seine Tracht ankündigt, daß er nicht mehr in die moderne Welt gehört. Noch immer trägt er seinen biegsamen Barrikadenhut, seinen schlichten vormärzlichen Knebelbart, das flatternde Halstuch und die ungezwungenen Beinkleider, als habe die Weltgeschichte seit zwölf Jahren still gestanden und warte auf seine Beihülfe, um sich wieder in Bewegung zu setzen. Eine intelligente, verwitterte Arbeiterphysiognomie, die theilnahmlos auf das fremde und unbegriffene Leben blickt. Seine Haare werden grau, und die vom Elend durchfurchten Züge des einsamen Mannes beleben sich nur auf Augenblicke, wenn er einem vorkaiserlichen Genossen im Haufen begegnet und wehmüthig die Hand drückt. Diese interessanten Gestalten, die noch vor wenigen Jahren einen wesentlichen Bestandtheil des Londoner Straßenlebens bildeten, sind in neuerer Zeit ziemlich selten geworden; Tod, Auswanderung und Amnestie haben unter den flüchtigen Kämpfern der 1848er Revolution bedeutend aufgeräumt; aber des Sonntags im Hyde-Park kann man sicher sein, solche lebendige Proteste gegen den 2. December zu finden. Viel zahlreicher sind natürlich die kaiserlichen Franzosen vertreten. Man erkennt sie leicht an ihrem heldenmütig spitz gedrehten Barte, dem frivolen kleinen Hütchen, der ängstlichen Toilette und der frechen Casernenphysiognomie, womit sie den Hohn der Londoner Straßenjugend und die trotz aller Verbrüderungsexperimente unversöhnliche Antipathie des englischen Arbeiters herausfordern.

Das bei weitem zahlreichste fremde Element unter dem Sonntagspublicum des Hyde-Parks bilden jedoch die deutschen Arbeiter, von den elegant gekleideten Uhrmachern und Juwelieren an, die eine imposant crinolirte Flamme aus der Putzmacherlinie am Arme spazieren führen, bis zu den ärmlich bezahlten Zuckersiedern von Whitechapel, die mit ihren breiten norddeutschen Gesichtern und vaterländischen Sonntagsröcken allsonntäglich aus den rauchigen und schmutzigen Gassen des Ostends an’s Tageslicht kommen und die babylonische Sprachverwirrung des Hyde-Parks mit ihrem gemüthlichen Plattdeutsch vermehren. Daneben classische Banditengesichter aus Italien, die heute feiern müssen, da ihr Drehorgelgeschäft mit den englischen Sonntagsgesetzen unverträglich ist; struppige Dänen, die jeden glattgekämmten Menschen für einen Schleswig-Holsteiner zu halten scheinen und sich inmitten der vielen Tausende von Sonntagsbesuchern mißtrauisch allein halten; viereckige, scharfmarkirte Schweizer, kriegerische Polen und Ungarn, natürlich Generäle oder Obristen, Griechen, Hindus, Türken, Neger – – alle Nationen senden Sonntags ihre Vertreter nach dem Hyde-Park. Matrosen in ihren blauen Hemden, Leibgardisten in ihren rothen Uniformen scheinen die Tausendsappermenter der Sonntagsvergnügungen zu sein, und zahlreiche Polizeidiener finden sich unter dem Haufen zerstreut, beschäftigen sich jedoch mehr mit den Herzen ihrer heute in seidenen Kleidern ausgerückten Köchinnen, als mit der Bewachung des Publicums. Am Sonntag wird im Hyde-Park nicht gestohlen, und wenn nicht gerade eine brennende Frage auf der Tagesordnung steht und Gelegenheit zu stürmische Volksversammlungen unter freiem Himmel giebt, so geht Alles in der größten Ordnung zu.

Da es sich nicht mit der Hochachtbarkeit eines christlichen Gentleman verträgt, die Sonntagsruhe seiner Pferde und Kutscher zu stören, so sieht man wenig Equipagen, und die wenigen, welche sich auf dem Corso blicken lassen, gehören Quäkern, Juden, deutschen Gesandten und ähnlichen heidnisch gesinnten Leuten.

„Rotten-Row“ ist im unbestrittenen Besitze von einigen Miethkleppern, auf denen sich verwegene Ladengehülfen, die gestern ihren Wochenlohn erhalten haben, herumtummeln. Geschlecht ist gar nicht vorhanden, weder ganze, noch halbe, noch Viertelswelt. Unter den Spaziergängern lassen sich jedoch auch vereinzelte hervorragende Personen und selbst Personagen erkennen, die unbemerkt und unbekümmert ihren Gedanken oder ihrer Verdauung nachgehen. Jene hohe, etwas nach vorn gebeugte Gestalt mit dem langen, nach hinten flatternden Haar, der griesgrämigen orientalischen Physiognomie und dem sorglosen schwarzen Anzuge ist Mr. Disraeli, der Mann mit dem ungeheueren Ehrgeize und den scharfen jüdischen Epigrammen, der Chef einer großen Partei, die ihn haßt und fürchtet und doch nicht entbehren kann, der glänzende Vertreter eines Conservatismus, der mit seinen radicalen Neigungen in unversöhnlichem Widersprüche steht. Er scheint allmählich unter dem

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_537.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)