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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Thierleben auf einer Eiche.

Von Theod. Rümpler.

Ich habe oft bei einbrechendem Abend am Fuße unseres Waldkönigs gelagert und den wunderbaren Stimmen gelauscht, welche sich mit dem singenden Sausen des Laubgewölbes über mir mischten. Dieses leise und doch so vernehmliche Summen, Brummen, Schnurren, Geigen, das lautere Anprallen der in die grüne Fluth sich niederlassenden Nachtfalter, das Rieseln thierischer Auswürfe auf den Blättern, das Knistern der arbeitenden Freßzangen, die letzten Noten der Drossel, der Jagdruf der aus dem Baumloche fahrenden Eule, – liegt nicht in dieser Musik ein reiches Stück Waldpoesie? .

Ich habe mich dann oft in die luftigen Aeste geschwungen, um mitten in dieses thierische Kleinleben hinein zu schauen, und die Mühe war so lohnend, als hätte ich auf des Berges höchster Spitze eine Aussicht in die weite, freie Gotteswelt gesucht. Schon am Stamme beginnt die große Kette der Hausgenossenschaft. An ihm hinauf laufen Ameisen in ganzen Zügen. In der aufgesprungenen Rinde eines stärkeren Astes haben sich Eichen-Blattläuse angesiedelt. Sie sind fast so groß wie kleine Stubenfliegen und senken ihren Rüssel in das Holz, um den Saft der Eiche zu trinken. Hierher ist der Zug der Ameisen gerichtet. Sie stehen mit den Blattläusen auf freundnachbarschaftlichem Fuße und liebkosen sie durch sanfte Berührungen mittelst der Fühlhörner. Dafür kredenzen ihnen diese aus den beiden Röhren des Hinterleibes einen süßen Saft, nach dem die Ameisen sehr begierig sind. Die Bewirtheten wenden sich zur Heimath und werden durch neue Züge ersetzt, bis die Gastfreunde ihr Letztes hergegeben haben.

Etwas unbescheidenere Fresser birgt der Stamm in seinem Innern, Larven, welche hier für Jahre ihre Heimath aufgeschlagen haben. Wer in einer stillen Nacht das Ohr an den Stamm legt, hört ihre harthornigen Kiefern im Holze schroten. Aus ihnen entwickelt sich, wenn die Zeit gekommen ist, der Feuerschröter, jener stattliche, mit hirschgeweihartigen Mandibeln ausgerüstete Käfer, der königliche Spießbock, welcher bis 4 Zoll lange Fühlhörner besitzt, der goldgetüpfelte Prachtkäfer und viele andere. Und wenn sie der Nährmutter entschlüpfen, um ihren ersten Ausflug in die Welt zu versuchen, so scheiden sie doch nie für immer. Bald sehen wir den Feuerschröter wieder am Stamme sitzen und mit der pinselförmigen Zunge den süßen Saft lecken, welchen dieser aus seiner Ueberfülle abfließen läßt, und auch die Uebrigen gehen und kommen, wie Kinder, die das Vaterhaus nimmer vergessen können.

Aber siehe doch den sonderbar gebildeten Knorren an der Stelle, wo der Stamm sich zu verästeln beginnt. Man muß genau hinsehen, um zu entdecken, daß er ein großes Raupennest ist, die gemeinschaftliche Wohnung der Processionsraupen. Es ist noch Tag, und vor Abends ist hier weiter nichts zu sehen, als das Nest. Aber wenn die Sonne zum Untergange sich neigt, dann beginnt der wohlgeordnete Zug der Insassen, stammaufwärts, zuerst eine, hinter ihr wieder eine, und mehrmals eine; dann macht die Avantgarde Halt, und die übrigen Geschwister – denn alle, oft 600 und mehr, stammen von einer Mutter – stellen sich in Rotten zu zwei, drei und vier auf, und nun geht der Zug weiter nach einem Aste, den sie über Nacht vollständig entlauben, und gegen Morgen geht der Zug in gleicher Weise in das Nest zurück! Ich habe mehrmals diese sonderbaren Wanderungen beobachtet, und wenn die Ordnung des Zuges auch nicht immer dieselbe blieb, so war doch eine gewisse Regelmäßigkeit der Aufstellung nicht zu verkennen. – Nach der letzten Häutung fertigen die Raupen das für die Puppenruhe bestimmte Nest, bereiten aus Seide und den eigenen Haaren jede für sich ein Gespinnst und streifen endlich die Haut ab. Und da hängen nun die Puppen schichtenweise und eng zusammen, bis im August der ausgebildete Schmetterling die Puppenhülle sprengt und das Freie gewinnt.

Ganz so friedlich ist jedoch der Lebenslauf der Processionsraupe nicht, wie er hier dargestellt ist. Zweig auf, Zweig ab rennt auf flinken Beinen ein Raupenjäger, ein Käfer, der Sykophant genannt; seine Flügeldecken strahlen von grünem Gold und von Kupferglanz; stark ist er und edel gebildet, – ein echter Strauchritter. Ihm fällt täglich der friedlichen Wallfahrer eine Menge zum Opfer. Noch verderblicher wird ihnen seine Larve, die sich oft zu drei und vier in das Nest einschleicht und würgt nach Herzenslust, die Raupen mögen sich zwischen den schneidigen Kiefern krümmen, wie sie wollen. Aber nach einer ungewöhnlich starken Mahlzeit liegt sie träge da und unfähig, sich zu rühren. Da geschieht es gar nicht selten, daß ihre kräftigeren Cameraden trotz des Ueberflusses an Raupen über sie herfallen und sie auffressen.

In der Nähe der Nester der Processionsraupe finden sich fast stets kleine weiße Puppen an 3–4 Zoll langen Fäden zu Dutzenden aufgehängt. Aus diesen Cocons fliegen Schlupfwespen aus, deren Larven früher den Körper einer Raupe bewohnten und sie bei lebendigem Leibe aufgefressen haben. Unter diesen entdeckt man auch braune Cocons mit einem weißen Bande in der Mitte.

Sie gehören ebenfalls einer Schlupfwespenart an und besitzen das Vermögen zu springen. Wenn ein starker Windstoß die Puppe auf ein nahes Blatt oder zwischen feines Gezweige geworfen hat, dann springt sie so lange nach allen Richtungen hin, bis sie wieder frei geworden ist und an ihrem Seile abwärts hängt. Wenn aus diesen Cocons im nächsten Jahre die Wespen ausschlüpfen, dann zeigen sich auch solche anderer Art. Die Larven derselben müssen also in den Puppen gewohnt und ihre Wirthe aufgefressen haben. So waren also drei Thiere verschiedener Art in einander geschachtelt, und das ist eins der interessantesten Stücke aus dem Naturhaushalte, das einmal einen besondern Rahmen verdient.

Wir können nicht umhin, noch einige Fälle wunderbarer Planmäßigkeit mitzutheilen, welche die sinnige Naturbetrachtung, wenn sie auch vom wissenschaftlichen Standpunkte aus jede Annahme vorausgesetzter Zwecke verwerfen muß, doch als Gottesordnung aufzufassen sich nicht entbrechen kann. Von Wenigen verstanden, von Vielen auch nicht einmal geahnet, spielen ewig die Triebfedern der Natur, ringen Tausende von Kräften nach bestimmten Zielen. Und ob sie auch, wie zu gegenseitiger Vernichtung gerüstet, gegen einander stürmen, – immer ist die Frucht des Kampfes Kraftausgleichung, Ebenmaß und Harmonie in Gottes schöner Welt.

Der Großkopf, die Raupe der Schwamm-Motte, lebt vornehmlich auf Eichen und vermehrt sich in manchen Jahren so außerordentlich, daß ganze Waldungen entlaubt dastehen, wie mitten im Winter. Wenn man unter den befallenen Bäumen hinweggeht, dann fällt der Auswurf der Fresser nebst Blattfragmenten in solcher Menge auf den Hut, daß man im Regen zu gehen meint. Ist aber ein wirkliches Regenwetter im Anzüge, dann ziehen sich die Raupen von den Blättern hinweg und legen sich in einem dichten Häufen am Stamme an, und zwar an einer Stelle, die dem Regen nicht zugänglich ist. Im Sommer findet man ihre unverhältnismäßig dicken Puppen „gestürzt“ in hohlen Eichen oder an anderen vor dem Wetter geschützten Orten hängen. An ihnen beobachtet Réaumur, daß jede derselben, wenn eine Schlupfwespe naht, um sie anzubohren, sich in ihrem Gespinnste wie eine Spindel umdreht, wohl eine Minute lang, und dann wieder die gleiche, aber rückgängige Bewegung macht, bis der Feind sich zurückgezogen hat. Es mag dies also das Mittel sein, sich der Angriffe ihrer Verfolger zu erwehren. Oft erkranken sie zu Hunderten und bleiben ermattet auf dem ersten besten Blatte sitzen. Die Schlupfwespen-Made, die den Fettkörper in dem Leibe ihres Wirthes aufgezehrt hat, bohrt sich heraus und bereitet sich zwischen der Raupe und dem Blatte ein Doppelgespinnst, sodaß es den Anschein gewinnt, als ob sie von jener bebrütet würde. Die erschöpfte Raupe aber geht bald zu Grunde.

Ich könnte die Zahl dieser kleinen Lebensbilder leicht noch um Hunderte vermehren; aber es ist dem Leser nun schon einleuchtend, daß die Eiche eine reichbevölkerte Thierherberge ist und unendlichen Stoff zu den interessantesten Zeichnungen bietet. Es giebt in der That kaum einen Theil des Baumes, der nicht in verschiedener Weise bald als Fraß, bald als Wohnung, bald als beides zugleich von Insecten verwerthet würde, und auch nicht einmal die feine Oberhaut bleibt unangetastet.

Vor Allen ist es eine Raupenart, welche in der Anfertigung einer Hülse aus Blättchen der Oberhaut eine merkwürdige Geschicklichkeit entwickelt. Die Hülse ist stets an einem jüngeren Zweige befestigt und besteht aus zwei länglich-dreieckigen Flügeln, welche die breite Seite oben und die Spitze unten haben und mit den Seitenwänden aneinander stoßen und so eine Art von Schutzdach

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_535.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)