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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Das erste deutsche Bundesschießen in Frankfurt a. M.

Von Dr. Karl Wagner.


3. Die ersten Festtage.
Das erste Nachtquartier – Die Lederhalle – Physiognomie der Stadt - Der Festzug und seine Gestalten - Das Riesenbouquet – Die Tyroler -

Das erste Banket - Der Herzog – Der Tyroler und sein Himmel – Die politische Bedeutung des Festes – Die Thätigkeit in der Schießhütte -

Tyroler Hochenegger und Schweizer Knutti – Nachts auf dem Festplatz – Das Räderwerk der Küche – Metz und Wildauer.


Schon während des Verlaufs des anderthalbwöchigen Festes, dessen Dimensionen sich von Tag zu Tag vergrößerten, sind wir von der ursprünglichen Absicht, jeden einzelnen Festtag für sich zu beschreiben, zurückgekommen, indem wir bald einsahen, daß eine solche Festbeschreibung die uns gesteckten Grenzen überschreiten würde. Wir haben daher absichtlich das ganze Fest bis zu seinem letzten officiellen Act, dem Schluß der Festhalle und der Übertragung der Fahnen in den „Kaisersaal“, an uns vorüber gehen lassen, um die vielen einzelnen Bilder, die während der letztvergangenen Woche unser Auge entzückt, unser Herz und unseren Kopf fast ausschließlich beschäftigt haben, wieder in ein gemeinsames Gemälde zusammenzudrängen und für dieses Bild einen passenden Rahmen zu finden. Denn so verführerisch es ist, so recht „mitten aus der Stimmung heraus“ Festberichte zu schreiben, so bedenklich ist dies in dem Falle, wo wir voraus wissen, daß sie nicht an demselben Tage gedruckt und gelesen werden. Dann thun wir besser daran, wir lassen die hochgehende Fluth der Feststimmung, die uns umbrauste und den festen Halt unmöglich zu machen drohte, verlaufen und warten die Ebbe der Entnüchterung ab. Wir sind dann objectiver und zuverlässiger geworden, und durch die Meinung Anderer, die unterdeß laut geworden ist, hat sich das eigene Urtheil geklärt. So gern wir nun in dem Folgenden den Geist, dem das Fest seinen Körper verdankte, möglichst getreu wiedergeben möchten, so gerne verzichten wir auf eine diplomatisch genaue Darstellung aller Einzelnheiten und können dies mit um so ruhigerem Gewissen, als angenommen werden darf, daß den meisten Lesern der Gartenlaube die hierher gehörigen Thatsachen schon bekannt sind. Wir geben daher den äußeren Verlauf des Festes mehr in allgemeinen Zügen und verweilen nur bei den Momenten und Stellen, welche charakteristisch für das Ganze oder als vereinzelte Episoden weniger bekannt sind.

Als ein solcher Lichtpunkt des Ganzen ist gewiß der erste Sonntag nach dem Empfangstag zu betrachten, als ein Lichtpunkt in mehr denn einer Beziehung. An ihm heiterte sich der bisher trübe Himmel auf, an ihm gingen auch die Herzen so recht auf, an ihm entfaltete sich der größte äußere Glanz des ganzen Festes. Noch in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag strömte eine gewaltige Regenfluth vom Himmel nieder. Es sah merkwürdig unfestlich in der Stadt aus, die eher einem Feldlager als einem Festlager glich. Um zwei Uhr in der Nacht trafen noch die letzten versprengten Ankömmlinge, Schützengäste und Fremde, ein. Wer nicht ein ganz sicheres Quartier hatte – und leider hatten nicht alle Schützen durch rechtzeitige Anmeldungen dafür gesorgt – der fiel lieber, ehe er in Wind und Wetter von Thür zu Thür anklopfen ging, in das erste beste noch offene Wirthslocal ein und wenn er einen Stuhl oder eine Sophaecke erobert hatte, so sank er bald darnach auch dem Schlummergott in die Arme, der ihn mit den übrigen todtmüden Reisenden, die das Gleiche thaten, bis zum anbrechenden Morgen an seiner Scholle gefesselt hielt. Des andern Morgens sollen denn da allerlei komische Scenen vorgefallen sein, als die Schlaftrunkenen sich die Augen rieben, nach ihren Kopfkissen suchten und statt dessen Reisesäcke oder fremde Köpfe fanden und ihrer ganzen eigenthümlichen Situation gewahr wurden. Da waren die noch glücklich zu preisen, die ein improvisirtes Strohlager in irgend einem Gewölbe gefunden hatten. Am folgenden Tage glich sich das Alles aus. Es waren Wohnungen genug da, ja durch den Gemeinsinn der Frankfurter Bürgerschaft deren über Bedarf zur Verfügung gestellt worden. Außerdem waren ja auch große Locale, öffentliche Säle, Schulen und dergleichen zur Massenaufnahme von Schützen hergerichtet worden, so z. B. die Lederhalle, in der allein 350 Schweizer untergebracht waren. So unbehaglich eine solche Art der Einquartierung auf den ersten Augenblick erscheint, so erträglich, ja gemüthlich war sie durch den praktischen und vorsorglichen Sinn, welcher das ganze Fest geleitet hatte, gemacht worden. Werfen wir einmal einen flüchtigen Blick in einen solchen Schützenfest-Schlafsaal. – Die Lederhalle ist ein großer, sehr hoher Raum mit breiten Gallerien an den Seiten und queer durch die Mitte. Rings an den Wänden herum und oben auf den Gallerien standen in einiger Entfernung von einander die Betten, ohne Sprungfedermatratzen zwar, sehr einfach, aber Alles ganz neu und noch nicht vorher gebraucht, Bettstellen wie Bettzeug. Jede Schlafstelle hatte ihre Nummer, welcher eine zweite an einem langen Tisch, ferner an einem Stuhl und ebenso an einer an der Wand hinlaufenden Kleiderhänge entsprach. Aus dem Tische fand der Träger der betreffenden Nummer die zur Waschtoilette gehörigen Gegenstände, wieder Alles ganz neu und frisch, auf der Kleiderhänge einen Doppelhaken für seine Kleider. Der ganze innere Raum war neu angestrichen und mit den Fahnen und Wappen der Schweizercantone ausgeschmückt worden, wie auch die Halle von außen bekränzt, fahnengeschmückt und mit Bildern (u. A. ein großer Carton „Tell’s Apfelschuß“) geziert, so daß das Ganze einen recht freundlichen Eindruck machte. Außerdem waren in den Seitenflügeln Conversations-, Lese- und Schreibzimmer, sowie Krankenzimmer eingerichtet, ein Arzt kam jeden Tag und erkundigte sich nach dem Wohlergehen der Schweizergäste, jeden Morgen um fünf Uhr rückten 25 Mann Soldaten zum Kleiderreinigen und später ein entsprechendes Contingent Mägde zum Bettmachen und Reinigen ein, es waren Tag-, Nacht- und Gaswächter, Hausmeister etc. angestellt – kurz Alles auf’s Beste versehen und eingerichtet, daß die Schweizer, denen dabei ihr eigener, von zu Hause mitgebrachter Organisationssinn zu Statten kam, sich in ihrer idealisirten Caserne äußerst heimisch fühlten und sie aus Dankbarkeit beim Abschied den „Schweizerhof“ tauften, welchen Namen sie behalten hat.

In ähnlicher Weise waren andere Massenlocale eingerichtet, selbst in den benachbarten Ortschaften. Die Werthheimer Schützen hatten es am Praktischsten eingerichtet. Sie hatten nämlich ein Schiff gemiethet, in dem sie nach Frankfurt fuhren und auf dem sie zugleich während des Festes die Nacht verbrachten und des Morgens gemeinschaftlich frühstückten.

Hatte man am Samstag Abend wenig Hoffnung auf das Gelingen des Zuges, so veränderte der Sonntag Morgen die ganze Sachlage. Der Regen hatte aufgehört, und hie und da stahl sich ein Sonnenblick durch die Wolken und gab den Fahnen und Kränzen erst das rechte Relief. Schon früh Morgens füllten sich die Straßen mit einer hin und her wogenden Menge, welche der Dinge, die da kommen sollten, geduldig harrte. Zu allen Thoren strömte die Masse des Landvolks schaarenweise herein, jeder Eisenbahnzug brachte Tausende von Fremden aus Nah und Fern. Allein auf der Offenbacher Bahn wurden an diesem Tage 17,000 Fahrkarten ausgegeben. Mit Mühe drängten sich die Schützen durch den Menschenknäuel nach ihrem Aufstellungsplatz, wo sie theilweise Gegenstand der eingehendsten Neugierde wurden, so besonders die hier zu Lande ganz neuen Erscheinungen der uniformirten norddeutschen Schützengilden, deren gravitätische Abgesandten reich gestickte und mit Fangschnüren, silbernen Epauletten und dergleichen versehene Uniformen, schwere, aus einzelnen Schildchen bestehende Ehrenketten, Generalshüte mit wallenden Federbüschen, gewaltige Schlagsäbel etc. trugen. Diese Gestalten, sowie nicht minder die Tyroler in ihren verschiedenen pittoresken Nationaltrachten, dazwischen durch einzelne costümirte Abtheilungen des Zuges, Musikcorps, Turner, Fahnenträger, Festordner zu Fuß und zu Pferde, dazu die eigenthümliche Physiognomie der Häuser, die aus Fahnen, Blumen und daraus hervorlugenden Köpfen aufgebaut schienen, – das Alles machte das ganze Treiben zu einem so bunten, farbenreichen, ganz von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge abweichenden, daß auch die kühlste Phantasie angeregt werden mußte.

Der Festzug, der im Ganzen, wie in allen seinen Einzelheiten, von Herrn Maler Ernst Schalk (dem Zeichner unseres heutigen Bildes) arrangirt und geleitet war, setzte sich um 11 Uhr in Bewegung. Ein Bild der Herrlichkeit, das sich während seines beinahe fünfstündigen Ganges


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_521.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)