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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Theilnahme eine für ihre Krankheit zweckmäßige ärztliche Behandlung finden, in welchen sie die möglichste Freiheit genießen, in welchen sie es fühlen, daß freundliche Menschenliebe es gut mit ihnen meint, in welchen sie, soweit es geht, gern sein können und an welche sie nach ihrem Austritte dankbare Anhänglichkeit fesselt. Damit ein solches Ziel erreicht werden kann, ist es Pflicht, weitere Kreise darüber zu belehren, was eine gut eingerichtete Irrenanstalt ist, damit allgemeines Vertrauen die Bemühungen der Aerzte unterstützt und man nicht mehr wähnt, daß Zwang und Strafen den Kranken in der Anstalt erwarten.

Es verlangt die Behandlung der Geistes- und Gemüthsstörungen, da sie sich meist sehr allmählich im Laufe von Monaten und Jahren entwickeln, ganz besonders günstige Bedingungen, wenn es der ärztlichen Kunst gelingen soll, ihrer Herr zu werden. Der Kranke muß aus seinen häuslichen Verhältnissen, in denen er immer wieder neue Nahrung für seine krankhaften Empfindungen und Vorstellungen sucht und findet, längere Zeit entfernt bleiben, die Kräfte seines Nervensystems müssen mit allen Mitteln der ärztlichen Kunst und Diätetik gehoben werden, wenn auch das geistige Leben sich wieder ordnen und regeln soll.

Die zur wirksamen Durchführung aller nothwendigen Anforderungen eingerichteten Anstalten enthalten deshalb Alles, was zur Cur und Pflege der in ihnen befindlichen Kranken erforderlich ist; es ist aus diesem Grunde die oberste Leitung in den Händen des Arztes. Freundliche, helle, gut gelüftete Krankenzimmer treten in ihnen an die Stelle der feuchten und abschreckenden Räume der alten Aufbewahrungshäuser; man erlaubt den Kranken möglichst den Genuß der freien Natur, man verschafft ihnen jegliche ihrem Stande und ihrer früheren Lebensweise entsprechende Annehmlichkeiten. Aufmerksame, ihres Dienstes kundige Wärter beaufsichtigen die Kranken, die, sobald ihr Zustand es erlaubt, zum Theil mit leichten ländlichen Arbeiten, zum Theil in den Werkstätten beschäftigt werden, während die Kranken der höheren Stände durch Gymnastik, Promenaden, Musik, Lectüre, Billard sich Bewegung oder Ableitung von ihrer krankhaften Geistesrichtung verschaffen müssen.

An die Stelle des Zwanges und der Strenge, mit der man früher die Kranken beherrschen zu müssen glaubte, trat mehr und mehr möglichste Schonung und freundliche Theilnahme. Aus den guten Anstalten sind fast alle Zwangsmittel verbannt, die ärztliche Kunst sucht durch innerliche Mittel, durch stundenlang fortgesetzte warme Bäder in Fällen großer Aufregung zu beruhigen, in einem verdunkelten Zimmer den Lichtreiz und jede von außen kommende Erregung abzuhalten, und die dann noch nöthigen Zwangsmittel beschränken sich darauf, den Kranken vor sich selbst oder seine nächste Umgebung vor ihm zu schützen. Im Allgemeinen nimmt unter einer solchen Behandlung die ganze Krankheit einen bei Weitem milderen Verlauf an, die Anstalten der Neuzeit kennen kaum noch die Schreckensgestalten früherer Zeit, und selbst unter Hunderten von solchen Kranken giebt es immer nur einzelne, die andauernd lärmen oder toben.

Der Leser wird ans dem eben Gesagten sich eine ohngefähre Vorstellung von der gegenwärtigen ärztlichen Behandlung solcher Krankheiten gebildet haben; sie ist im Wesentlichen eine körperlich stärkende, und mit der beginnenden Genesung eine geistig ableitende und anregende. Durch die erstere wird der Kranke für die letztere empfänglich gemacht, und mit der wiedergewonnenen Selbstbeherrschung tritt auch eine weitere Zugänglichkeit für die Rathschläge des Arztes und die Trostgründe der Angehörigen ein. Der Kranke kehrt allmählich zu sich zurück oder erwacht wie aus einem Traume, mit dem sein ganzer Zustand die größte Aehnlichkeit bat, um allmählich dann völlig zu genesen. Zur Befestigung der Gesundheit ist dann meist noch ein einige Monate dauernder Aufenthalt in der Anstalt nöthig, während dessen dem Kranken Gelegenheit geboten werden muß, sich wieder an den Verkehr mit Gesunden zu gewöhnen, um allmählich wieder in das Leben eingeführt werden zu können.

Trotz zahlreicher Heilungen von Kranken trifft man noch recht häufig die Meinung ausgesprochen, daß Geistesstörungen im Allgemeinen der ärztlichen Hülfe unzugänglich und unheilbar seien. Es ist dieses durchaus nicht der Fall, da zeitige, zweckmäßige ärztliche Hülfe in Asylen für solche Kranke in mehr als der Hälfte aller frischen Erkrankungen Genesung herbeiführt. Mit der längeren Dauer der Krankheit nimmt hingegen die Aussicht auf Heilung sehr schnell ab, so daß, wenn die Krankheit bereits Jahre gedauert hat, es nur selten noch gelingt, dieselbe zu heilen. – Es wurden, um ein Beispiel in Betreff der Resultate der Behandlung anzuführen, von 1039 während der vier Jahre von 1856 - 60 in die Heilanstalt zu Illenau aufgenommenen Kranken 437 geheilt; es konnten 252 als gebessert zu den Angehörigen zurückkehren, 121 Kranke starben, und 191 mußten als ungeheilt in die Pflegeanstalt übergeben werden.

Derartige Resultate dürften lohnend genug erscheinen, um die Bemühungen der Humanität für die Geistesgestörten zu rechtfertigen und die kostspielige Einrichtung besonderer der Behandlung und Pflege dieser Kranken gewidmeter Anstalten zu motiviren. Für ihr segensreiches Gedeihen besonders wichtig ist es aber, daß über den Zweck und die Einrichtung der Asyle für Geisteskranke sich weitere Kreise ein richtigen Urtheil bilden, daß man in ihnen nicht mehr mittelalterliche Tollhäuser, sondern gut eingerichtete Krankenanstalten erblicke, aus denen alljährlich in Deutschland allein viele Tausende unglücklicher kranker Menschen genesen zu den Ihrigen zurückkehren.

Geistesstörungen sind nicht etwa ganz besondere oder gar unheilbare Krankheiten; sie sind Nerven-Hirnkrankheiten, die allerdings mehr, als manche andere, Schonung und aufmerksame Behandlung erheischen. Wie der körperliche Gesundheitszustand, so zeigt auch das geistige Leben seine täglichen Schwankungen zwischen Kraft und Ermüdung und kann durch ungünstige geistige Einflüsse dauernd gehemmt und gestört werden. Ein solcher Kranker ist deshalb kein anderer, als jeder Nervenkranke; er trägt ebenso wenig Schuld an seinem Leiden, wie dieser, und selbst der gesündeste Mensch kann ebenso wie körperlich so auch geistig erkranken, wenn die Bedingungen zur Entwickelung einer geistigen Störung vorhanden sind. – Zur Heilung der Geisteskrankheiten ist aber, nochmals sei es gesagt, die sofortige Entfernung des Kranken aus seiner Umgebung und der Aufenthalt desselben in einer guten Irrenanstalt durchaus unentbehrlich.

Dr. med. O. M.



Spatz und Stahr. Die Fenster meiner Stube lagen nach einem Gemüse- und Grasgarten zu. Dort war an einem Giebel der höheren Obstbäume ein Stahrenkasten angebracht, der auch alljährlich von einem Stahrenpaar als Sommerwohnung bezogen wurde. Der Frühling war diesmal zeitiger als sonst in’s Land gezogen. Musje Spatz, der immer auf dem Zeuge ist, hatte daher auch mit Frau Spätzin eher, als gewöhnlich, zum Neste getragen, und da er sich bekanntlich über Mein und Dein keine allzu großen Scrupel macht, so hatte er hierzu eine Wohnung ausgewählt, auf die er nichts weniger als einen Anspruch zu machen hatte: den Stahrenkasten.

Behaglich und aufgeblasen wie ein Rentier, der über Nacht reich geworden, saß er beim warmen Sonnenschein auf dem Stängelchen unterhalb des runden Eingangslochs, sein eintöniges Lied zirpend. Das Nestchen war fertig und wartete nur noch der Eier, die Frau Spätzin hinein legen sollte; da kam unerwartet ein Störenfried an, in der Person eines glanzbefiederten Herrn Stahrmatz, der die bequeme Wohnung zu einer zeitweiligen Niederlassung ebenfalls sehr passend finden mochte. Trotz der Ueberlegenheit des Gegners in Größe und langer spitzer Waffe suchte doch der Spatz diesem den Eingang zu wehren. Mit aufgestrupptem Gefieder setzte er sich dicht vor dem Loche in Positur, und während er zugleich seinen Schlachtgesang ertönen ließ, erwartete er den Angriff des Feindes. Dieser ließ nicht lange auf sich warten, ein heftiger Kampf entspann sich. Mit Schnäbeln und Flügeln wurde wacker gekämpft, während die Spätzin auf den nächsten Zweigen kreischend umher hüpfte, dem Gatten wahrscheinlich Muth und Ausdauer zurufend. Dieser schlug auch, wider alles Erwarten, jeden Angriff mit einer wahren Todesverachtung und einer solchen Gewandtheit ab, daß endlich der Stahr, ermüdet und etwas zerzaust, mit ziemlicher Eile seinen Rückzug nahm und vorerst nichts wieder von sich sehen ließ. Ein Siegesgeschrei der beiden Gatten begleitete den Abziehenden. Beide setzten sich nun auf das Stängelchen, wo sie sich bei allerlei lebendigen Bewegungen gewaltig viel zu erzählen hatten; dann suchte Herr Spatz seine etwas derangirte Toilette wieder in Ordnung zu bringen, wobei auch die dienstfertige Gattin sich behülflich zeigte.

Einige Tage später stand ich wieder am Fenster und wurde hier Zeuge einer andern Scene. Wieder saß das Spatzenpaar recht gemüthlich auf seinem Stängelchen, als sich Stahrmatz abermals zeigte. Nochmals entspann sich ein Kampf auf Leben und Tod, der aber jetzt von Seiten des Stahrs energischer geführt wurde, so daß der Spatz, nach der verzweifeltsten Gegenwehr, endlich genöthigt wurde, den Platz zu räumen. Zu den Klagetönen der Spatzin gesellte sich das Zorngeschrei des Gatten; aber den Sieger kümmerte das nicht, er nahm Besitz vom Innern und fing auch gleich an auszuräumen. Stroh, Haare, Hadern und anderes mühsam zusammengeschleppte, Alles wurde, und zwar etwas hastig, zum Loche heraus geschleudert. Der Spatz suchte, als guter Wirth, zu retten, was aus dem Schiffbruch zu retten war. Er schoß von seinem Zweige Herunter, und ehe ein Haar- oder Federbündel zur Erde kam, erhaschte er es mit außerordentlicher Geschicklichkeit und brachte es sofort unter den Dachsparren eines Hinterhauses in Sicherheit. Schließlich holte er auch noch das, was bereits zu Boden gefallen war. Jetzt spielte der Sieger den Behaglichen. Er setzte sich, nachdem er das Zerstörungswerk vollbracht, außen auf das Stängelchen, hielt Rundschau und ließ sich von der warmen Sonne bescheinen. An der ganzen Sicherheit seines Benehmens mußte man gewahren, daß er sich in seinem vollkommenen Rechte wußte. Er war jedenfalls der eigentliche mehrjährige Besitzer dieser Wohnung, während der vorher Abgeschlagene vermuthlich einer der Söhne war, die hier das Licht der Welt erblickt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ich jetzt die Ehre, Herrn Stahrmatz senior vor mir zu sehen.

Das Spatzenpaar war währenddem verschwunden, längere Zeit ließ es nichts von sich hören und sehen; aber Plötzlich rückte ein ganzes Corps seines Gelichters, wohl an die dreißig, vor. Der Unterlegene hatte jedenfalls von anderwärts Succurs herbeigeholt. Mit solch einer respectabeln Macht hinter sich, war er jetzt wieder der Tollkühne, adlermuthig warf er sich auf den verhaßten Feind, der bisher die lärmenden Ankömmlinge gar nicht beachtet zu haben schien. Aber der Spatz kam abermals schief an, der Stahr parirte den Stoß so gewaltig, daß der Angreifer taumelnd flatternd fast bis zur Erde sank. Eine wiederholte Attake hatte keinen besseren Erfolg. Der Succurs hielt sich dabei in respectvoller Entfernung, machte aber dafür ein um so gewaltigeres Geschrei. Als der Kämpe sah, daß er so schmählich im Stiche gelassen wurde, gab er weitere Versuche auf und begnügte sich nun damit, auf einem der untersten Aeste des Baumes, auf dem er vor Kurzem noch Herr gewesen, bescheiden Platz zu nehmen, da seinen Unmuth zu verschnauben und den Gegner zu beobachten. Der Stahr ließ ihn großmüthig gewähren. Nachdem das Spatzencorps noch eine Weile geschwatzt und raisonnirt hatte, zerstreute es sich allmählich wieder.

Der Stahr begann nun seine häuslichen Einrichtungen zu treffen. Geschäftig und dabei höchst spaßig maß er mit aufgesperrtem Schnabel von außen die Dimensionen, und als er diese richtig oder vielmehr noch die alten fand, flog er ab, kehrte aber bald darauf mit seiner Frau Liebsten wieder zurück. Er schien ihr sehr wohlbefriedigt die wiedergefundene Wohnung zu zeigen, und nachdem Beide, von Ast zu Ast hüpfend, auch die Umgebung gemustert, strichen sie wieder ab. Der Stahr kehrte bald wieder zurück, in seinem spitzen Schnabel ein Bündel Utensilien zum Neste tragend. Eine Weile arbeitete er im Kasten und entfernte sich dann wieder. Der Spatz hatte bisher ruhig und anscheinend indolent unten auf seinem Aste gesessen, aber er hatte unter dieser Maske auf Rache gesonnen und erwartete hierzu den geeigneten Moment. Kaum war der Stahr weg, so schoß er wie ein Pfeil in den Kasten, holte das eben Eingetragene heraus,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_495.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)