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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

gewirkt haben und noch wirken. So viel ist gewiß, so sehr die französischen Chirurgen im Allgemeinen die deutschen an Kühnheit, Eleganz und technischer Fertigkeit übertreffen, so tief stehen die französischen innern Aerzte unter den deutschen, und die eigentliche Therapie, d. h. das Heilen der Krankheit, befindet sich in Frankreich in einem noch viel größeren Verfalle, als bei uns in Deutschland.

Heine gehörte nicht zu den großen Männern, welche, wenn man ihre persönliche Bekanntschaft macht, nachher in uns den Wunsch erregen, dieselbe lieber nicht gemacht zu haben. Jeder Mensch bildet sich eine Vorstellung von einem Manne, für den er sich besonders interessirt, dessen Schriften ihn vor andern anziehen. Findet er nun bei späterem persönlichen Bekanntwerden, daß das von ihm entworfene Ideal dem wirklichen Gegenstände nicht entspricht, so fühlt er sich in seinen Erwartungen bitter getäuscht. Nun aber finden wir nur sehr selten, daß ein ausgezeichneter Schriftsteller im gewöhnlichen Leben dem Bilde gleicht, das wir nach seinen Schriften uns von ihm geschaffen haben. Und in der That befähigen nur ein wahrhaft unerschöpflicher Reichthum und eine seltene Elasticität und Frische des Geistes dazu, im alltäglichen Verkehr in Gedanken und Ausdruck nicht hinter dem zurückbleiben, was nur das Ergebniß einsamen, tiefen Nachdenkens und die in guten Stunden empfangene Eingebung der nicht allezeit bereiten Muse zu sein pflegt. Wohl Keinem ist es gegeben, immer Geistreiches, immer Bedeutendes zu sagen! Dennoch – gestehen wir es nur offen – nahen wir uns selten einem genialen Manne anders, als mit der geheimen Prätension, daß er sich als solcher sofort durch Wort und Blick vor uns legitimire. Daher ist denn auch der Eindruck, den die Persönlichkeit sowohl anderer großer Männer, als namentlich ausgezeichneter Schriftsteller erregt, sehr häufig ein fast nichtssagender, und es gehört immer zu den Ausnahmen, daß wir einen Dichter, und sei er noch so begabt, im gewöhnlichen Leben ebenso interessant als in seinen Schriften finden. Heine zählte zu diesen Ausnahmen. Er machte auch in seinen Unterhaltungen den Eindruck eines genialen Mannes. Nur insofern fand ich mich im Irrthum, als ich ihn mir als einen Solchen gedacht hatte, der nicht drei Worte sprechen könne, ohne beim vierten satirisch zu werden. Die mephistophelische und dämonische Seite seines Geistes, die in seinen Gedichten und prosaischen Schriften gleich Wetterleuchten überall hervorblitzt, vermißte man in seinem Gespräche beinahe gänzlich. Nur zuweilen warf er als Würze einen sarkastischen Witz ein. Sonst war er in seiner mündlichen Unterhaltung ebenso einfach wie in seinen schönen lyrischen Gedichten. Aber eben diese ungekünstelte Einfachheit übte einen ungemeinen Zauber aus. Die Worte flössen ihm harmonisch vom Munde, und er sprach über die verschiedenartigsten Gegenstände mit einer Gewandtheit und Leichtigkeit, daß es in der That Bewunderung erregte, wenn man bedachte, wie sehr er fortwährend leiden mußte. Weder sein Gedächtniß, noch die Schärfe seines Verstandes hatte bis dahin im Geringsten in Folge seiner schrecklichen Krankheit gelitten. Und niemals hörte ich ihn über seinen traurigen Zustand in solchen Klagen sich ergehen, wie sie bei Menschen gewöhnlichen Schlages üblich sind. Nur einmal, als wir gerade über die Zustände Deutschlands sprachen, hörte ich ihn ausrufen: „O, könnte ich doch noch einmal mein Vaterland wiedersehen, wäre es mir doch vergönnt, in Deutschland zu sterben!“

Eine tiefe und innige Vaterlandsliebe sprach sich in allen seinen Reden aus, und diejenigen irren sehr, welche glauben, Heine habe durch seinen langen Aufenthalt in Frankreich seine Sympathien für Deutschland verloren und neige sich zum Franzosenthume hin; wie auch diejenigen zu strenge urtheilen, welche es ihm zum Verbrechen machen, daß er in seinen Schriften auf Kosten der Deutschen mit den Franzosen liebäugle. Das Wahre daran ist, daß Heine die lächerliche Seite des deutschen Volkscharakters mit bitterer Satire geißelte, und welcher Deutsche wollte ihm das nicht Dank wissen? Daß er aber die Franzosen über die Deutschen erhebt, wo sie es nicht wirklich verdienten, dafür finden sich nirgends Belege. Anfangs, als der Dichter nach Frankreich kam, wurde er freilich, wie jeder am Kosmopolitismus leidende Deutsche, durch den äußern Glanz und Schimmer der französischen Zustände bestochen. Einem Manne von solch’ einem diagnostischen Scharfblicke wie Heine mußten jedoch die mannigfachen französischen Unzulänglichkeiten nur zu bald in die Augen fallen, und bei näherem Anblicke erscheint das meiste Schöne, was er den Franzosen sagt, als mit Zucker bestreute Galle, und die Franzosen haben weder Ursache, für die groben Schmeicheleien und schmeichelhaften Grobheiten, die er ihnen auftischt, ihm dankbar zu sein, noch die Deutschen, ihre Nachbarn dieserhalb zu beneiden. Wie richtig Heine aber die politischen Verhältnisse Frankreichs nach der Julirevolution beurtheilt hat, das geht aus vielen seiner Schriften zur Genüge hervor. Und wenn er u. A. sagt: „das ganze Geheimniß der revolutionären Parteien besteht darin, daß sie die Regierung nicht mehr angreifen wollen, sondern von Seiten derselben einen Angriff erwarten, um thatsächlichen Widerstand zu leisten; eine neue Insurrection kann daher in Paris nicht ausbrechen ohne den besondern Willen der Regierung, die erst durch irgend eine bedeutende Thorheit die Veranlassung geben muß. Gelingt die Insurrection, so wird Frankreich sogleich zu einer Republik erklärt, und die Revolution wälzt sich dann über ganz Europa, dessen alte Institutionen alsdann, wo nicht zertrümmert, doch wenigstens sehr erschüttert werden,“ – so hat er mit wahrhaft prophetischem Blicke die Genesis der Februarrevolution vorausgesehen. Ob auch die andere Prophezeiung des Dichters in Erfüllung gehen wird, daß das französische Volk, nachdem es den andern Völkern die Freiheit gebracht, durch den Zwiespalt der inneren Parteien zu Grunde gerichtet werden wird? Die jetzigen Zustände scheinen auch dieses Orakel bewahrheiten zu wollen.

(Schluß folgt.)





Ein Culturbild aus der indogermanischen Urzeit.

Von August Schleicher in Jena.

Wenn die Geologen Landschaftsbilder zeichnen aus der ungezählte Jahrtausende hinter uns liegenden Jugendzeit unseres Erdballes und die Astronomen noch viele Millionen von Jahren weiter zurückgreifen und die Entstehung unseres Sonnensystemes anschaulich zu machen versuchen, so mag es auch dem Sprachforscher vergönnt sein, mit den Mitteln, die ihm seine Wissenschaft an die Hand giebt, eine Skizze zu entwerfen von dem Culturzustande eines Volkes, das vor vielleicht fünf Jahrtausenden in Centralasien seinen Sitz hatte. Dies Volk hat aber für uns ein besonderes Interesse, da wir selbst seine Nachkommen sind und demnach in jenem Volke unsere eigenen Vorfahren kennen lernen. Wir werden sehen, daß wir uns dieser unserer Ahnen keineswegs zu schämen brauchen.

Welche Mittel stehen uns aber zu Gebote, um von Zuständen eine Anschauung zu erhalten, über die keine geschichtliche Aufzeichnung etwas berichtet und von denen nicht einmal aufgefundene Reste ein wenn auch fragmentarisches Zeugniß ablegen? Diese Mittel sind auch hier, wie in den Naturwissenschaften, die sichere, streng wissenschaftliche Beobachtung und der auf sie gebaute richtige Schluß. Es ist ein bekanntes unbestrittenes Ergebniß der Sprachwissenschaft, derjenigen Wissenschaft, welche, wie vielleicht keine andere, eine deutsche, in Deutschland entstandene und vorzugsweise von Deutschen ausgebildete ist, daß die sämmtlichen Völker indogermanischen Stammes von einem Urvolke abstammen, wie die Sprachen, die sie reden und redeten, sich sämmtlich als Nachkommen einer Ursprache ergeben, der indogermanischen Ursprache.

Aus ihren Töchtern, den ältesten in schwesterlichem Verwandtschaftsverhältnisse stehenden Sprachen der Inder, Perser, Griechen, Italer, Kelten, Slaven, Litauer, Deutschen, läßt sich nach den bekannten Gesetzen des Sprachlebens die gemeinsame Mutter, der alle jene Schwestern entstammen, erschließen. Wie sich von einem Strome, dessen unterer Lauf nur bekannt ist, mit Bestimmtheit behaupten läßt, daß er auch einen oberen Lauf und eine Quelle haben müsse, wie wir uns von einem Thiere, das wir nur in einem älteren Exemplare vor uns sehen, das Jugendalter und sogar den Zustand vor der Geburt vorstellen können, in ähnlicher Weise können wir das Leben der indogermanischen Sprachen, von dem uns nur die letzten Jahrtausende zugänglich sind, mit den Mitteln der Wissenschaft hinauf in die graue Vorzeit und bis zu seinen Anfängen

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