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berühmten Architekten Nering gänzlich umgebaut, erweitert und renovirt; 1840 verlor es den aus jener Zeit noch stammenden Thurm, den einzigen Schmuck, den das graue, finstere und in keiner Beziehung seiner Bestimmung und geschichtlichen Bedeutung würdige Gebäude auszuweisen hatte. – In jenen alten Tagen besaß der Berliner Rath eine fast fürstliche Gewalt, indem er in seiner Hand die Communal-, Gerichts- und Polizeigewalt vereinigte. Anfänglich besaß Berlin, wie die meisten alten Städte in der Mark, eine vollkommen demokratische Verfassung. Die angesessene Bürgerschaft wählte zwölf Rathsherren aus ihrer Mitte, welche jedoch, ohne die gesammten Bürger zu befragen, nichts Wichtiges vornehmen durften. Von den Rathsmännern schieden jährlich Viere aus, die durch neue Wahlen ersetzt wurden. Daher findet man in den alten Urkunden die häufig vorkommende Bezeichnung: „Rademanne olde und nye“ (Rathmänner alte und neue). Schon im Jahre 1280 scheinen jedoch die Rathmänner von Berlin nach einer oligarchischen Regierung getrachtet zu haben, indem sie die Zustimmung der Bürger zu umgehen suchten, was zu mannigfachen Streitigkeiten Veranlassung gab. Unter dem Kurfürsten Sigismund erreichte endlich die aristokratische Partei ihr Ziel, indem von nun an nicht mehr die gesammte Bürgerschaft zur Wahl zugelassen wurde, sondern Bürgermeister und alte Rathmänner die neuen jährlich durch Stimmenmehrheit erwählten, so daß diese Aemter und Würden in bestimmten Patricierfamilien, die sich nach und nach in Berlin eingefunden oder allmählich gebildet hatten, so gut wie erblich wurden. Natürlich waren die gemeinen Bürger mit diesen Neuerungen keineswegs einverstanden; sie erregten Unruhen, und diese boten den Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern, da von ihnen Abhülfe gefordert wurde, willkommene Gelegenheit, sich in die innern Angelegenheiten der Bürger zu mischen und ihre freie Verfassung zu beseitigen. Dies geschah unter Friedrich II., den die über die Willkür des Raths empörten Bürger und Gewerke zum Schiedsrichter herbeiriefen. Durch seinen Ausspruch, dem sich die Rathmänner fügen mußten, wurde die bisherige Verfassung vollkommen aufgehoben. Der neue Rath sollte, wie es in der betreffenden Urkunde heißt, jährlich „frumme Lüte, sunderliken ut den Vierwerken verran (voran) und den „gemeynen Bergern“ to Borgermeister und to Ratmannen kesen (wählen).“ Zum Lohn stellte der Kurfürst die Bedingung, daß er fortan die Thorschlüssel der Stadt haben sollte. Die Wahlen wurden auch nicht eher für gültig angesehen, bis der Kurfürst sie zuvor bestätigt. Indem das Haus Hohenzollern sich mit den demokratischen Volkselementen gegen die angemaßten Rechte einer patricisch-oligarchischen Partei verband, gelang es ihm, seine eigene Macht zu vergrößern und den Grundstein zu der nothwendigen Einheit des Staats und der Souverainetät, allerdings auf Kosten der bürgerlichen Selbstständigkeit und Freiheit, zu legen.

In jenen Zeiten wurde auch von der Stadt auf dem Rathhause die Gerichtsbarkeit ausgeübt. Auch dieses Privilegium ging im Jahre 1484 mit vielen andern an Friedrich II. von Hohenzollern verloren. Damals verschwand auch der steinerne „Roland“, der auf dem Molkenmarkte stand und als Zeichen des der Stadt verliehenen Blutbannes galt. Die Gerichtsverhandlungen fanden öffentlich, im Freien und vor dem gesammten Volke statt; nur bei schlechtem Weiter wurden sie in der „Laube“, einer offenen Halle des Rathhauses, abgehalten. Der Schulze war der Vorstand des Gerichts, bei dem die Klage angebracht wurde; er berief die Schöppen, ähnlich unseren heutigen Geschworenen, um das Urtheil zu fällen. Auch die das Gericht umstehenden Zuschauer, welche theils Neugierde, theils Interesse herbeigeführt, blieben nicht unthätig. Sie bildeten den sogenannten „Umstand“, der zwar von dem eigentlichen Gericht durch eine Schranke, oft nur durch ein bloßes Seil getrennt war, aber häufig, zumal wenn er aus alten und erfahrenen Leuten bestand, um Rath und Beistand bei der Findung und Abfassung des Urtheils befragt und angegangen wurde. Der Schulze oder Richter mußte das so gefaßte Urtheil aussprechen und vollstrecken, wobei ihm nicht gestattet war, auch nur die geringste Veränderung weder im Wortlaut noch an der Strafe vorzunehmen. Das Gericht war im eigentlichsten Sinne ein volkstümliches und weit demokratischeres Institut als unsere Geschworenen, da auch die Umstehenden aufgefordert wurden, ihre Meinung in schwierigen Fällen abzugeben und die Verhandlungen durchaus den Charakter der unbeschränktesten Öffentlichkeit und Freiheit zeigten.

Dicht an dem alten Berliner Rathhause und zwar in der Spandauer Straße stand auch der Pranger, damals der „Kaak“ genannt, ein Pfahl mit einem eisernen Halsbande, woran die Verbrecher angeschlossen und von dem Büttel öffentlich gezüchtigt wurden. Noch zu einem andern Zwecke wurde in früheren Zeiten der Pranger gebraucht und zwar zum Anheften von Placaten und Carricaturen. Jedem Bürger war es mit Bewilligung des Magistrats erlaubt, derartige „Scheltbriefe“ anzuschlagen, wenn ihm Jemand das Wort gebrochen oder sonst treulos an ihm gehandelt hatte. Der Schreiber eines solchen Pamphlets stand daneben und las mit lauter Stimme dem Volke seinen Angriff vor, erläuterte auch die dazu gehörigen Carricaturen zum Ergötzen des Publicums, das an diesem mittelalterlichen „Kladderadatsch“ seine Freude hatte und die etwas derben, oft zotenhaften Witze laut belachte. Allerdings mußte aber auch der Scribent für die Wahrheit seiner Beschuldigungen einstehen, widrigenfalls er dieselben Strafen zu erleiden hatte, die den Gegner für sein Vergehen trafen. Wurde ihm bewiesen, daß er gelogen, so mußte er seinen Scheltbrief öffentlich ablesen, dann mit der eigenen Hand sich einen Schlag auf den Mund geben und hinzusetzen: „Mund, als Du das sprachest, da logest Du die Worte.“ Hiermit war er also für sein ganzes Leben ehrlos erklärt, ein großes Unglück in jenen Tagen, wo die Ehre noch als das höchste Gut des Mannes galt. Das alte Berliner Stadtbuch bemerkt zu der betreffenden Verordnung ganz treuherzig: „Gott gebe, daß brave Leute es dazu nicht kommen lassen, sie verschlagen ja Leuten an Ehren. Doch sind deren viele, die selber sich muthwillig in Unehren bringen, aber sie sind nicht darum rechtlos, was wohl zu unterscheiden ist.“ Als ein Pröbchen der damaligen Placaten-Literatur mögen folgende Anreden dienen: „treuloser, vor der Welt aufgeblasener Betrüger, Lügner, Schelme, Beutelschneider, Schmutzteufel, falsche, siegellose, unehrliche, glaublose, böse, lügenhafte Leute, die Lügen mit Siegeln und falschen Zeugen getrieben, denen Betrug keine Schande deucht.“ – Auch die Carricaturen waren von demselben Schlage und meist so kräftiger Art, daß sie sich unmöglich wiedergeben lassen, da, wie bekannt, unsere Vorfahren eine Portion unfläthigen Humors vertragen konnten und nicht so zart und empfindlich in gewissen Dingen waren, wie unsere jetzige, darum aber schwerlich sittlichere Generation.

Nicht immer ging es so streng und ernsthaft auf dem Berliner Rathhaus zu, sondern oft genug herrschte daselbst laute Luft und ausgelassene Fröhlichkeit. Bei festlichen Gelegenheiten wurde daselbst geschmaust und gezecht und wohl auch ein Tänzchen veranstaltet, wobei natürlich das schöne Geschlecht nicht fehlen durfte. Als der wilde Ritter Quitzow nach langer Fehde sich wieder mit der Stadt Berlin vertrug, da wurde ihm zu Ehren ein prächtiges Gastmahl gegeben, und bis zum Morgen tanzte der eben so galante als raublustige Herr mit den schönen Töchtern der Rathsherren und Geschlechter. Wie tanzlustig unsere Vorfahren aber waren, dafür spricht die alte Verordnung, welche den Bürgern bei Strafe verbietet, nach dem Läuten der Abendglocke auf den Straßen zu tanzen. Vielleicht dürfte es für unsere schönen Leserinnen nicht ohne Interesse sein, die verschiedenen Namen der Tänze und die betreffenden Touren kennen zu lernen. Da gab es einen „Zwölfmonatstanz“, worin die Paare durch verschiedene Bewegungen das Ab- und Zunehmen des Mondes und das Kommen und Schwinden der Jahreszeiten symbolisch ausdrückten. Sehr beliebt war der „Todtentanz“, wobei ein Tänzer niedersank und den Todten spielte, während er von allen anwesenden Damen im Vorbeischreiten geküßt wurde. Zuweilen übernahm auch wohl eine Jungfrau die Stelle des Verstorbenen und ließ sich zur Abwechslung von den Herren küssen. Jedenfalls verdiente dieser Tanz wieder Mode zu werden. Der „polnische Tanz“ bestand nach einer alten Beschreibung „in großen Reverenzen, lieblichem Neigen mit Kippen und Wippen“ und war muthmaßlich unserer Polonaise sehr ähnlich. Im „Taubentanz“ wurde das Trippeln der Tauben und vielleicht ihr zärtliches Liebesgirren nachgeahmt, während der „Schmoller“ das Schmollen und die Versöhnung der Liebenden darstellte. Das „Zäunen“ scheint die größte Aehnlichkeit mit unserer ebenfalls veralteten Ecossaise gehabt zu haben und der „Drehtanz“ unser gewöhnlicher Walzer mit entsprechenden Modifikationen gewesen zu sein.

Wie den Tanz, so liebten die alten Berliner auch einen guten Trunk, den sie in dem „Rathskeller“ fanden, der aber nicht im Rathhause selbst, sondern in der Nähe lag, wo jetzt das Haus Nr. 64 in der Spandauer Straße steht. Unsere Vorfahren waren kluge

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_462.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)