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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Gourmands, vom frischen Wildpret übersättigt, um ihren Gaumen zu kitzeln, das Fleisch in stinkende Fäulniß übergehen, und nennen das „haut goût“! Wie mit dem sinnlichen, ist es mit dem geistigen Geschmack. Die Staël hat diese Erscheinung mit wenigen Worten treffend erklärt: „C’est la satiété, qui fait recourir à la bizarrerie.“ So vergaß auch Beethoven zuweilen den zweiten Theil der Maxime, welche Goethe dem Director im Vorspiel zum Faust in den Mund legt:

„Wie machen wir’s, daß Alles frisch und neu,
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“

Die Werke der ersten und zweiten Stylart sind mit Bedeutung auch gefällig, d. h. anmuthig in Form und Inhalt. In der dritten Periode gewinnt das Bedeutende die Oberhand, während das Gefällige mehr zurücktritt und zuweilen ganz verschwindet. Wenn aber ein Theil der Kritiker wegen solcher Einzelheiten alle Werke seiner dritten Stylperiode verwirft, so begeht er dasselbe Unrecht wie diejenigen, welche diese Werke für die besten erklären.

Wie man diese Bemerkungen aufnehmen möge, so viel ist gewiß, Beethoven ist bis heute nicht erreicht, noch weniger übertroffen worden. In seinen Werken liegt die echte Aesthetik praktisch ausgeprägt, auch mit einigen negativen Warnungen für Alle, welche sie aufsuchen wollen. Wie nützlich also ist für die ganze Musikwelt das Unternehmen der Herren Verleger, sämmtliche Werke des bis jetzt größten Componisten der Welt in einer vollständigen und richtigen Ausgabe vorzulegen! Die erste Lieferung bringt von der ersten Serie, Nr. 1. Erste Symphonie C dur, Op. 21. Partitur. Serie sechs: Quartette 1–3 F G D dur, Op. 18. Partitur und Stimmen. Serie neun. Erstes Concert für Pianoforte mit Orchester, Op. 15. C dur. Serie sechzehn: Drei Sonaten, Op. 2, Nr. 1–3. Fm. A. C. Alle diese Werke gehören im Ganzen der ersten Stylart an, sind in den letzten Jahren des vorigen und den ersten des jetzigen Jahrhunderts componirt. Nun suche man doch darin die gerade in diesen Jahren am gräulichsten wüthenden Revolutions- und Kriegsstürme und die fieberischen Aufregungen der Völker Europas!

J. C. Lobe.



Wanderungen in und um Berlin.

1.
Berlin als Maria Stuart – Das alte Rathhaus – Das Gemeindeleben des alten Berlins – Der Pranger und die Placaten-Literatur – Das tanzende und trinkende Berlin.

Wie Maria Stuart darf auch Berlin von sich behaupten: „Ich bin besser als mein Ruf“. Der Süddeutsche hegt ein zum Theil nicht ganz unbegründetes Vorurtheil gegen die sogenannte Metropole der Intelligenz, die er sich noch immer als eine Anhäufung von langweiligen Casernen, Exercirhäusern und Reitschulen in einem wüsten Sandmeer denkt, bewohnt von zugeknöpften, schnarrenden Gardelieutenants und steifen Geheimräthen mit ihren bleichsüchtigen Töchtern, welche ausschließlich von dünnem Thee und noch dünneren Butterbroden leben. Selbst die besser Unterrichteten finden Berlin mit seinen neuen schnurgeraden Straßen und seinen hohen Häusern, mit seinen prachtvollen Museen und meist jämmerlichen Kirchen, mit seinem staubigen Thiergarten und der schmutzigen Spree uninteressant und – wie sich besonders die Gelehrten auszudrücken pflegen – unhistorisch. Wie die meisten Vorurtheile wird auch dieses bei genauerer Prüfung und sorgfältiger Untersuchung immer mehr schwinden. Zu diesem Zwecke genügt schon eine Wanderung durch die Straßen Berlins, die keineswegs so uninteressant sind, als ein flüchtiger Beobachter vielleicht zu glauben geneigt ist. Allerdings sind hier mehr als anderswo die Spuren der Vorzeit durch das schnelle Wachsthum in den Hintergrund gedrängt und zum Theil verwischt worden, aber trotzdem fehlt es auch in Berlin nicht an ehrwürdigen Reliquien, uralten Gebäuden und Denkmälern, steinernen Chroniken, die uns von dem Leben der Vergangenheit erzählen und von dem Thun und Treiben der Vergangenheit Rechenschaft geben. Wer dieselben sehen will, der darf sie freilich nicht in den eleganten Stadttheilen suchen, wo Palast an Palast emporsteigt, sondern in abgelegenen Gäßchen, in verrufenen Winkeln und in den minder genannten, von der feinen Welt nur selten besuchten Straßen.

Das historisch merkwürdige Berlin umfaßt gegenwärtig die Brüder-, heilige Geist-, Spandauer-, Stralauer-, Jüden-, Kloster-, Bischofs-, Pagenstraße etc., welche jetzt hauptsächlich dem Handel und der Industrie dienen. Wo sonst stolze Ritter und vornehme Patricier hausten, wohnt jetzt der betriebsame Kaufmann, der geschäftige Fabrikant und oft der schmutzige Trödler. Die materiellen Interessen haben den Sieg davon getragen, die moderne Industrie das feudale Mittelalter fast bis auf die letzte Spur verdrängt. Das Alte mußte vergehen, damit ein neues Leben sich entwickelte, die Sonderinteressen vor dem allgemeinen Wohle schwinden, die Bevorrechtung einzelner Stände, ihre Freiheiten und Privilegien dem Recht und der Freiheit Aller weichen. Es ist dies ein allgemeines Naturgesetz, daß jede Neubildung nur auf Kosten einer früheren Schöpfung geschieht, daß die Blüthe verwelken muß, damit die Frucht sich erst daraus entwickeln kann. Ein solches Gefühl überkommt unwillkürlich den Wanderer, wenn er das alte Berlin durchschreitet, um unter dem geschäftigen Lärm des Tages und dem rastlosen Treiben der Gegenwart die Trümmer und Reliquien der Vergangenheit zu suchen, jene wunderlich alten Häuser mit engen, finstern Treppen, lang gestreckten, dunklen Höfen und kleinen, niedrigen Zimmern, jene altersgrauen Kirchen, aus rohen Quadern gebaut, jene oft unscheinbaren bemoosten Steine und Denkmäler, welche eine Fülle historischer Erinnerungen erwecken.

Wir stehen vor einer solchen Ruine, die in diesem Augenblicke einer mächtigen Umwandlung entgegengeht, vor dem alten Berliner Rathhause an der Ecke der Spandauer- und Königsstraße. Von dem früheren Gebäude, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt, sind nur noch wenig Spuren erhalten, und auch diese werden bald für immer schwinden, da sich an derselben Stelle ein neuer prächtiger Bau erhebt. Das alte Rathhaus hatte das Unglück, in den Jahren 1380, 1484 und 1581 vom Feuer stark beschädigt zu werden, wobei viele werthvolle Documente mit verbrannt sind. Im Jahre 1693 wurde es nach dem Plane des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_460.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)