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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nicht vorherige Verstümmelung durch Sturz, Erfrieren u. s. w. ihrem mühseligen Treiben ein Ende machte.

Zu guter Letzt aber giebt es noch eine Art Pässe, denen keine Kunststraßen je etwas anhaben werden. Diese aber werden nur von Hirten, Gemsjägern und Schmugglern, und das auch nur im Sommer, begangen. Ihre Hauptvorzüge bestehen darin, daß man da nicht so leicht unwillkommene Begegnungen zu fürchten hat, daß sie eigentlich keine gemachten Wege, überhaupt gar keine Wege, sondern bloße Klettergelegenheiten sind, um von einem Thale in das andere zu gelangen. Sie sind eigentlich mehr in der Tradition als in der Wirklichkeit vorhanden und nur an den halsbrechenden Stellen, wo der Fuß sonst nirgends einen festen Standpunkt findet, an eine bestimmte Richtung gebunden. Sonst mag Jeder bequem die Gelegenheit sich aussuchen, wie er am besten über steinige Alpweiden und bewegliche Geröllhalden wegkommen kann, ohne den Hals zu brechen. Die südöstliche Schweiz ist besonders reich an solch einladenden Spaziergängen, die wenigstens zuweilen prachtvolle Ausblicke gestatten. Je höher hinauf man kommt, je schauerlicher und halsbrecherischer werden diese Wege, und geht’s gar über die Grenze des ewigen Schnees hinauf, so ist auf denselben nicht gut hausen. Ueber schmale Felskanten und eisige Firnen wegschreitend, wird der Wanderer nur zu häufig vom grimmigen Wirbelwinde gepackt und in die Tiefe geschleudert. Besonders reich an solchen Annehmlichkeiten ist der bekannte 8,500 Fuß hohe Kistenpaß, vom Linththal im Canton Glarus nach Briegels im Bündnerlande hinüberführend. An den schroffen Felsenwänden des Ruchi emporkletternd führt dieser schauerliche Weg zu einer Felsspalte, „das hohe Loch“ genannt, welche gerade weit genug ist, um eine einzelne nicht gar zu dickleibige Person durchkriechen zu lassen. Am andern Ende der Höhlung hat man das haarsträubende Vergnügen, unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinabgucken zu können. Trotz dieser verlockenden Perspective möchte aber der Verfasser dieser Zeilen keine der schönen Leserinnen der Gartenlaube zu dieser Vergnügungstour einladen, denn später muß man nicht nur drunten in der schauerlichen Kluft durch einen Wildbach waten, sondern zum Ueberfluß noch an einer Stelle, die nicht vergeblich den ominösen Namen „Rothstein“ trägt, von einem Felsenabsatze in schmutziges Wasser hinunter springen, wenn der Wind etwa zufällig das Tannenbäumchen wieder einmal weggeblasen hat, das die Jäger zum bequemeren Hinabklettern an den Fuß gestemmt haben.

Nicht alle diese Gebirgspässe bieten übrigens der Gefahren so viele dar. Selbst Gletscherpässe, die in einer Höhe bis zu 10,000 Fuß über weite Eiswüsten gehen, wie z. B. derjenige über die Strahlegg, der vierzehn Stunden lang meist über blankes Eis wegführt, werden mitunter nicht nur von Touristen, sondern auch von muthigen und neugierigen Touristinnen begangen. Besonders sind die Engländer auf solche Parforcetouren versessen. Freilich bekommen ihnen dieselben nicht immer gut. So verunglückten 1860 drei den ersten Familien von Wales angehörende junge Männer auf der Passage des Col de Géant in der Montblancgruppe. Gegen das Dorf Courmayeur hinuntersteigend und einen schmalen Felsgrat überkletternd sank der Hinterste aus Müdigkeit zusammen und riß, da Alle sich mittelst eines Strickes an einander gebunden hatten, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich ist, seine beiden Reisegefährten sammt dem Führer mit sich in den Abgrund. Zwei andere Führer, welche die Enden des Seils hielten, hatten nicht die Kraft, die Stürzenden zurückzuhalten, deren grausiger Fall noch eine Lauine aufweckte, die nachdonnernd die Unglücklichen begrub, die man später nur als blutige, schier unkenntliche Leichen auffand.

Als Beispiel, bis zu welcher Ungeheuerlichkeit die Schwierigkeiten mancher Alpenpässe sich aufthürmen, mag noch der Col du Trift, vom Walliser Einfischthale nach Zermatt hinüberführend, genannt werden. Da hat man die nicht Jedermann zusagende Gelegenheit, eine nahezu senkrechte Eiswand mittelst ungeheuerer Stufen wie auf einer Leiter hinan zu klimmen und an einer nicht minder steilen Felsenmauer an einer da zu größerer Bequemlichkeit eingeschmiedeten Kette, wie ein Glockenschwengel zwischen Himmel und Erde schwebend, sich hinauf zu ziehen. Diese Passagen gehören nun freilich nicht mehr in’s Gebiet der Säumerpfade. Wer möchte sie aber alle zählen, diese erforschten und unerforschten Pfade in der riesigen Gletscherwildniß, deren Eismeere allein an funfzig deutsche Quadratmeilen umfassen und deren beständig noch neue in der Bildung begriffen sind, während die vorhandenen bereits die Zahl von 600 übersteigen, von denen 400 von einer bis zu sieben Stunden lang sind. Da unten in den blaugrünen Krystallgrotten schläft gar mancher kühne Geselle den Todesschlaf, ohne daß seine Bekannten den Ort nur ahnen, wo er der Auferstehung entgegenträumt, während sie achtlos über die verrätherische, von Schnee und Eis neu überbrückte Spalte schreiten, deren klaffender Mund den Unvorsichtigen verschlang.

A. B.




Ist das Rasiren des Bartes der Gesundheit nachtheilig oder nicht?

Die obige Frage ist von einem Edinburger Arzte neuerlich aufgestellt, da in seinem Vaterlande die Bartmode mit unerwarteter Raschheit sich ausbreitet und schon die nationalglatten Untergesichter auch in der fashionablen Welt zu verdrängen droht, darob aber eine bartlose und barthassende Partei großes Geschrei erhebt und sogar Gefahr für die Gesundheit im Nichtrasiren gewittert hat. Lächerlich ist die Frage nicht, davon hat uns die Motivirung überzeugt, welche jener Arzt derselben gegeben, und mir hoffen, auch der Leser werde ihre ernste Bedeutung, sobald er uns gehört, nicht verkennen.

Fragen wir zunächst: Weshalb sollen wir uns rasiren? Weshalb das Kinn entblößen und den Kopf ungeschoren lassen? Oder, um mit einem Schriftsteller zu reden, sollen wir „den Kinnbacken weniger in Ehren halten als den Schädel, oder David’s Bart nicht so verehrungswürdig finden als Absalom’s Haarlocken“? Lassen Sie uns die Sache in Ruhe ergründen.

Rasiren ist sicherlich nicht durch das Alter des Brauches geheiligt. Die Bärte sind Altersgenossen der Schöpfung, denn jüdische Gelehrte erklären: „wir glauben mit Recht, daß unser Aeltervater Adam in der Frische des Mannesalters geschaffen wurde und in der ersten Stunde seines Lebens dastand im Schmucke eines üppigen schwarzen Bartes.“ Im Morgenlande schwört man noch heute bei Mosis Bart, und verweilt nicht der Psalmist mit Vorliebe bei dem ehrwürdigen Barte Aaron’s, welcher „herabreichte bis zum Saume seines Gewandes“? Die levitischen Priester ließen ihre Bärte wachsen, und eine bestimmte Verordnung verbot das Abstumpfen der Kanten des Bartes.[1] Lange Bärte und schleppende Gewänder wurden von den Juden der Vorzeit als Zeichen der Ehrenhaftigkeit betrachtet, und Kürzung der letzteren wie Abschneiden der ersteren waren Merkmale tiefer Erniedrigung.[2]

Alle heidnischen Götter, mit Ausnahme des Apollo, trugen buschige Bärte. Im ersten Buche der Iliade wird erzählt, Thetis habe, als sie Jupiter gewinnen wollte, mit der Rechten sein Knie, mit der Linken seinen Bart umfaßt. Gleicher Brauch wurde bei den Juden ausgeübt, wenn es galt, eine Gunst zu erwerben. So „faßte Joab mit seiner rechten Hand Amasa bei dem Barte, daß er ihn küssete.“[3] Die Zierde des Bartes zu erhöhen, durchflocht man ihn im Alterthum mit Goldfäden, und Jünglinge opferten als ihr höchstes Gut den ersten Flaum von ihrem Kinne auf dem Altare. Der Trauernde gab seine Verzweiflung durch Abschneiden seines Bartes kund. – Homer sagt den Griechen nach, sie seien wohlgeübt gewesen in der Kunst, den Bart zu pflegen: er selbst verabscheute die Vernichtung desselben, denn sein „rauhes Antlitz“ war versteckt „im alterstarrenden Gewand des Winterschnees“. Nach Athenäus trugen alle Griechen Bärte bis zur Zeit des Alexander, welcher seinen Macedoniern das Bartabschneiden anbefahl, weil der Feind im Kampfe sie am Barte ergreifen könnte. Die Athener schoren sich auch ohne diesen Zwang den Bart, bis Justinian die struppige Staffage der Gesichter wieder in Mode brachte. Die Philosophen des alten Griechenlands waren der Länge ihres Bartes

  1. 3. Buch Mosis, Cap. 19, 27.
  2. 2. Buch Samuelis, Cap. 10, 4.
  3. 2. Buch Samuelis, Cap. 20, 9.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_439.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)