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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

um die Salassier niederzuwerfen, und zu Kaiser Augustus Zeiten war jener Paß schon ein vielgebrauchter Weg geworden.

Wie billig erwiderten später die Völkerschaften des Nordens die römische Aufmerksamkeit mit der Artigkeit eines Gegenbesuches, warteten aber weislich, bis die übele Laune der durch Ueppigkeit und verschwenderischen Haushalt in Verfall gerathenen Römer nicht mehr so sehr zu fürchten war.

In friedlicher Absicht also sind wenigstens die Alpenpässe nicht gangbarer gemacht, und von den Römern an bis zu dem letzten Weltumpflüger Napoleon sind diese Pfade fleißiger mit Blut gedüngt worden, als irgend ein anderes Fleckchen Erde. Auf den einsamen Pfaden Graubündens würgte im dreißigjährigen Kriege der österreichische Feldherr Baldrion, bald von den Rhätiern geschlagen, bald als entmenschter, erbarmungsloser Sieger sengend und mordend in das arme Alpenland wieder einbrechend; auf des Gotthard’s kalten Höhen und an seinen südlichen und nördlichen Abhängen focht der Russe Suwarow seine blutigen und erfolglosen Schlachten gegen die fränkische Republik, und über den großen St. Bernhard zog der Götze des Jahrhunderts, Napoleon, zur Schlacht von Marengo. Das Beste, was aus diesen Würgereien hervorging, ist die prachtvolle Straße, die der nimmersatte Eroberer zum Zwecke dieses Alpenübergangs über den genannten Berg erbauen ließ, denn ihre Ausführung hat den Impuls gegeben zu den riesigen Anstrengungen, welche seither gemacht worden sind, die Alpenübergänge mittelst solcher Kunststraßen praktikabler zu machen. Graubünden, Uri und Tessin haben in den letzten Jahrzehnten fast Unglaubliches auf diesem Gebiete vollbracht. Namentlich besitzt der erstere Canton jetzt ein beinahe vollendetes Straßennetz, das über Höhen, die früher nur mit Lebensgefahr der Säumer mit seinen Rossen beschritt, den bequemen Verkehr mit Fuhrwerken ermöglicht und dem Handel den wichtigsten Vorschub leistet.

Aus dem Gesagten nun geht hervor, daß der Begriff Alpenpaß ein gar sehr relativer ist. Ist von den eben besprochenen Kunststraßen die Rede, so ist auf denselben eben nicht viel mehr Gefahr des Verunglückens vorhanden, als drunten im Thale in den Eisenbahnwaggons. Da herrscht im Sommer und Winter mit wenigen Unterbrechungen ein reges Leben. Haust der Winter ein paar Tage gar zu arg und wirbelt zu große Schneemassen zusammen, so sind die Rutner dafür da, die verschneite Passage wieder fahrbar zu machen.

Die schweizerischen Bergstraßen nehmen die Richtung gegen die großen Bewässerungsadern hin, die der ewigen Gletscherwelt entströmen. Der Gotthard sucht die Reuß und den Ticino, der Bernhardin den Hinterrhein, der Stilfserjochpaß die Adda etc. Je höher hinauf es geht, desto schwieriger wurde der Bau, und je stärker die Steigung, um so complicirter sind die Zickzacklinien, in denen der Weg über gewaltige Brücken, durchbrochene Felsenthore und längs der schroffen Felsenwände etagenartig, wie riesige, langgestreckte Befestigungsmauern über einander geschichtet, dem Kamm des Gebirges zuführt. Schroffer abfallend als die Nordseite des Gebirgs, bot dabei die Südseite viel mehr Schwierigkeit als jene. Besonders zahlreich und durch ihre Endlosigkeit langweilig sind diese Schlangenwindungen im steilen Tremolathale in Tessin. Der Wanderer mag sich gefaßt machen, durch 46 solcher Windungen hindurch lavirt zu werden, bevor er sich droben im Hospize mit einem Glas Veltliner die steifgewordenen Glieder aufthauen kann. Auch die Querthäler, die umgangen werden müssen, tragen zu der ungebührlichen Verlängerung dieser Kunststraßen mächtig bei. Häufig erblickt man Punkte der vor sich liegenden Straße anscheinend in nächster Nähe, und es dauert dennoch Stunden, bis man dieselben erreicht. In denjenigen Gegenden, wo der Winter und sein Vetter Boreas auch gar zu wild ihr Wesen treiben, stehen zum Schutze der Wanderer feste steinerne Zufluchtshäuser, an denen die rasenden Stürme des Gebirges umsonst ihre Kraft versuchen würden. Meist dienen dieselben auch den Rutnern (Bahnmachern) zur Wohnung, die da oben eine nicht gar zu kurzweilige Existenz haben mögen. Eingeschneite Reisende treffen in diesen Häuschen, selbst wenn sie unbewohnt sind, Holz, um Feuer anzumachen, und wohl auch ein Brod, um sich, wenn die Unbilden der Witterung zu längerem Aufenthalte nöthigen, vor dem Hunger schützen zu können.

Ein äußerst interessantes Schutzmittel gegen die Gefahren der Lauinenstürze im Winter und Frühling sind die sogenannten Gallerien. Bald sind es durch Felsen getriebene Gänge, wie auf dem Stilfserjoch, bei Gondo und Algabi, auf der Südseite des Simplon, oder auch künstlich ausgemauerte Wölbungen mit schießschartenartigen Luftöffnungen. Man trifft sie auf fast allen Alpenstraßen an Stellen, welche den wiederkehrenden Grundlauinen ausgesetzt sind. Ihre Construction ist so fest, daß sie selbst den furchtbarsten Lauinenstürzen zu widerstehen vermögen, obschon es ein ganz eigenthümliches Gefühl erregt, die winterlichen Ungethüme über sich wegdonnern zu hören. Zuweilen begegnet’s auch, daß der Schneesturz eine Fläche breit genug einnimmt, um die beiden Ausgänge der künstlichen Höhle zu verschütten. Das hat aber so viel nicht auf sich; man braucht deswegen noch keinen düstern Gedanken an’s Lebendigbegrabensein Raum zu geben, denn die Rutner sind in solchen Fällen gewöhnlich rasch bei der Hand, um den Verschütteten wieder Luft zu machen. – Die längste dieser Gallerien ist die auf der Splügenstraße; sie mißt 1530 Fuß und galt lange für ein Wunderwerk der Baukunst. Bei der Vorsicht, die auf diesen Alpenstraßen im Transport der Reisenden angewendet wird, kommen Unglücksfälle im Sommer kaum noch häufiger vor als in der Ebene. Höchstens kann der Postwagen hin und wieder einem großen Trupp Vieh begegnen, der von welschen Viehhändlern über die Alpen transportirt wird. Da hat dann der Postillon freilich seine liebe Noth, mit seinem Fuhrwerke durch das störrische gehörnte Volk hindurch zu kommen, das auf der engen Passage weder nach links noch rechts ausweichen kann und durch sein Scheuwerden die Schwierigkeiten der Situation noch vermehrt. Da tönen dann freilich Postillons- und Viehtreiberflüche in keineswegs harmonischem Gemische durcheinander, und das Kreischen der reisenden Damen ist auch kaum geeignet, das Concert zu einem angenehmen zu machen. Indessen man wickelt am Ende Rindvieh und Postpferde, Postillone und Viehtreiber, Engländer und Franzosen, Deutsche und Amerikaner, Herren und Damen glücklich auseinander, und der Postwagen rollt ungehemmt und ohne weiteres Unglück den sonnigen Geländen Italiens zu. Im Winter, nun, da sieht es freilich etwas krauser aus. Schon sehr früh rückt der mürrische Geselle im Herbste da wieder in sein beliebtestes Quartier ein, das er vor wenig Wochen nur nach langen und harten Kämpfen mit seinem gefährlichsten Gegner, dem heißen Föhnwinde, verließ. Die ersten Versuche, von den einsamen Revieren wieder nachhaltig Besitz zu ergreifen, werden bis zur Mitte des October zuweilen noch abgeschlagen. Später aber hat’s ein Ende mit den Räderfuhrwerken, Mensch und Waare müssen von da an auf Schlitten weiter befördert werden. Auf den französischen Pässen hat diese Transportweise nichts Absonderliches. Es werden da sechsplätzige, verschlossene Schlitten gebraucht, deren Fenster, statt aus gläsernen Scheiben, aus hölzernen Schiebern bestehen. Die löbliche schweizerische Eidgenossenschaft packt das Ding aber anders an; sie läßt auf den Walliser und Graubündner Pässen die Reisenden in ein- und zweiplätzigen Schlitten über das Gebirg „säumen“. Bis zur Region des Schnees fährt man noch im Postwagen; kommt aber der glatte Gleitweg, so ladet man Reisende und Gepäck ab, läßt den Wagen an der Seite der Straße stehen – es stiehlt ihn Niemand – und packt die Passagiere und ihr Gepäck in die ebenfalls unbewacht in umgestürztem Zustande am Straßenrand stehenden Schlitten, versteht sich, nachdem man dieselben zuerst aufgerichtet hat. Jeder Passagier erhält einen Büffelmantel, welchen kaum die Kugel einer Enfieldbüchse zu durchbohren vermöchte. Jeder Schlitten ist mit nur einem Pferde bespannt. Voran fährt der Postillon, den Schluß macht der Conducteur, die übrigen Schlitten werden ohne Leitung der Weisheit der Pferde überlassen. Hat es Nachts vorher zu arg geschneit, so wird zur Vorsicht noch ein mit Ochsen bespannter Bahnschlitten vorausgesandt, den die mit Schaufeln bewaffneten Rutner begleiten, um an den schwierigsten Stellen Bahn zu brechen. Der Reisende hat dann das winterlich und wunderlich genug aussehende Schauspiel, zwischen zehn bis zwölf Fuß hohen Schneebastionen durchzufahren oder gar durch lange Schneetunnels zu gleiten, die von den Rutnern an denjenigen Stellen durchgebrochen worden sind, wo stürzende Lauinen oder Windwehen den Schnee zu gewaltigen Massen aufgeschichtet haben.

Die größten Gefahren, welche sich bei diesen lebhaft an die Nordpolfahrten erinnernden Uebergängen darbieten, liegen einerseits in dem Ausgleiten der Schlitten, bei dem in jähen Krümmungen am schwindelnden Rande des Abgrunds hinführenden Wege. Da müssen denn die sehnigen, knochenstarken Gebirgsrosse ihre Kraft erproben,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_422.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)