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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

des Verletzenden und des Verletzten, auf deren Stellung zu einander, auf die am Orte herrschende Gewohnheit und allgemeine Ansicht, sowie auf die Gebräuche der Zeit ankomme.

Wenn man seinen Hut auf dem Kopfe hat und auch auf der Straße vor Niemand abnimmt, so ist das anderen Leuten gegenüber oft vielleicht eine Grobheit, jedoch keine Beleidigung im Sinne Rechtens; wenn man aber mit dem Hut auf dem Haupte in eines Anderen Zimmer, oder in eine geschlossene Gesellschaft tritt, so kann sehr leicht in diesem Benehmen eine Injurie liegen. Schilt ein Mann einen Straßenbuben, den er beim Beschädigen einer öffentlichen Anlage betrifft, so ist das keine Injurie, wenngleich der Rügende dem Buben etwas Unangenehmes zufügen wollte. Der gleiche Ausdruck würde einer anständigen Person gegenüber eine strafbare Beleidigung sein.

Ein Vater, der sein Kind, ein Lehrer, der seinen unartigen Schüler schilt oder leicht züchtigt, eine Hausfrau, die ihr Alles zerbrechendes Dienstmädchen eine dumme Gans nennt, begehen keine Injurie. Wenn Jemand in einem monarchischen Staate einen strengen Royalisten einen Republikaner und in einer Republik einen eifrigen Demokraten einen Monarchisten nennt, so wird in beiden Fällen eine Beleidigung angenommen werden können. Während früher die Benennung „Knecht“ für unser „Gesell“ oder „Gehülfe“ üblich war, möchten wir jetzt Keinem rathen, die löbliche Genossenschaft der Schuhmachergesellen Schuh- oder Stiefelknechte zu nennen.

Zur Injurie ist wesentlich erforderlich die Absicht, die Ehre eines Anderen zu kränken, ihm eine gewisse Verachtung zu beweisen. Der Beweis dieser Absicht liegt nun freilich bei vielen Beleidigungen schon in der kränkenden Handlung selbst, denn wer z. B. einem Andern – abgesehen von einem etwa gesetzlich zustehenden Züchtigungsrechte – eine Ohrfeige giebt, wird sich nicht damit entschuldigen können, daß er eine Kränkung des Geohrfeigten eigentlich nicht beabsichtigt habe. Der Fremde dagegen, welcher, der deutschen Sprache wenig kundig, von Studenten sehr häufig das Wort „Schwein“ für das in seiner Sprache „Glück“ bedeutende Wort gehört hatte und auf einem Balle eine Dame zum Tanze aufforderte mit der Frage: „könnte ich das Schwein haben?“ beging dadurch keine Injurie, weil ihm nicht die Absicht innewohnte, die Dame mit dem Namen des borstigen Thieres zu kränken.

Aus dem bezeichneten Erforderniß ergiebt sich, daß auch ironische Aeußerungen und bloße Zeichen strafbare Beleidigungen werden können, sobald sich nur die Absicht, die Ehre und Persönlichkeit Jemandes zu kränken, zu erkennen giebt. Mit Recht wurde daher jener bestraft, der höhnend zu einem Dritten geäußert hatte: „Sie sind ein großes Genie.“ Als er darauf, aus Aerger über die erlittene Strafe, seinem Gegner zugerufen hatte, er bekenne nun, daß dieser durchaus kein Genie sei, gerieth er wieder in Strafe.

Wer Jemandem unberufen die Zunge zeigt oder durch andere unanständige Gebehrden – etwa wie eine im Faust in der Hexenküchenscene angedeutet ist – Verachtung gegen ihn an den Tag legt, beleidigt ihn unzweifelhaft.

Die Injurien werden demnach begangen durch thätliche Mißhandlungen – welche auch in Handlungen liegen können, die sonst Liebesbezeigungen sind, wie z. B. ein Kuß, der Jemandem wider seinen Willen gegeben wird – durch Verachtung enthaltende Aeußerungen oder durch solche falsche oder entstellte Nachreden, welche dazu geeignet sind, die Ehre einer Person zu erschüttern. Solche Nachreden nennt man Verleumdungen.[1]

Der Beweis der Wahrheit des Nachgeredeten hebt den Begriff der Verleumdung auf und macht die Nachrede straflos, wenn sie nicht in beleidigender Form geschehen ist, denn Jeder hat das Recht und die Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Z. B. hat Jemand gestohlen und ist mehrfach bestraft worden. Ein Anderer sagt dies einem Dritten, der den Bestraften, indem er dessen Vergangenheit nicht kennt, eben zu seinem Cassirer machen will. Hier ist die Nachrede straflos. Wenn aber Jemand an öffentlichen Orten und gegen alle Welt mit Fingern auf den Mann deutet und laut erzählt, daß dieser einmal gestohlen und auf dem Zuchthause gesessen habe, so liegt hierin, wenn auch keine Verleumdung, doch eine grobe Injurie. Im ersteren Falle lag die Absicht vor, vor einem bedenklichen Subjecte zu warnen, im letzteren eine ganz unberechtigte Kränkung.

Ebenso verhält es sich mit dem directen Vorhalt einer wahren Thatsache. Ist man z. B. Jemandem Geld schuldig und zahlt es zur bestimmten Zeit nicht, so ist der Gläubiger im vollen Rechte, wenn er den Säumigen mahnt. Thut er dies jedoch laut in Gegenwart Anderer, so injuriirt er seinen Schuldner, denn seine Absicht geht nicht blos dahin, sein Geld zu bekommen, sondern er will auch den Schuldner vor den Zuhörern herabsetzen. –

Kein Geld zu haben ist durchaus keine Schande. Wenn aber Jemand, der uns eine Sache zum Verkauf anbietet, die wir nicht haben mögen, weil sie uns nicht preiswürdig erscheint, uns höhnend zuruft: „Ach, der hat kein Geld, der arme Mann!“ und dergleichen mehr, so ist dies – abgesehen von der Wahrheit oder Unwahrheit der Behauptung – gewiß ein injuriöses Benehmen.

Nicht blos direct, sondern auch in einer Folgerung kann eine Injurie ausgesprochen werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine gegebene Bedingung mit der daraus gezogenen Folgerung nicht in richtigem und rechtlichem Zusammenhange steht. So z. B. liegt keine Injurie vor, wenn man sagt: „Wenn Sie diese Sache gefunden haben und dem Eigenthümer nicht wieder geben, so sind Sie ein Dieb.“ Dagegen liegt eine Beleidigung in der Behauptung: „Wenn Sie Ihrem armen Schuldner nicht Nachsicht geben, so sind Sie ein Schuft.“ – Jede Art der Injurien setzt noch voraus, daß der Beleidigte in die Beleidigung nicht eingewilligt hat. Hat er dies gethan, so liegt keine Injurie vor, denn wem sein Wille geschieht, dem geschieht kein Unrecht. -– Es kommt dies im Leben oft vor, indem etwa Jemand sagt: „Nenne mich einen Esel, wenn dem nicht so und so ist.“ – Tritt das „wenn“ nicht ein und das Schimpfwort erfolgt, so ist es nicht strafbar.

Außer der gewöhnlichen, allen Menschen zukommenden Ehre giebt es nun auch noch eine sogenannte Standesehre, und es kann Etwas in Bezug auf dieselbe eine Injurie sein, was in Rücksicht auf die allgemeine Ehre diesen Charakter nicht haben würde. Zum Beispiel Jemand sagt von einem Officiere, daß er während der Schlacht in einem Graben sich verborgen habe. Wenn dies wahr ist, so läßt sich Nichts dagegen machen. Ist es aber erdichtet, so liegt in jenen Worten, abgesehen von dem ebenfalls beleidigenden Vorwürfe einer Pflichtwidrigkeit, schon deshalb eine Injurie, weil jeder Beweis von Feigheit einen Officier seines Standes unwürdig und ihn verächtlich machen würde. Das Gleiche, von einem friedlichen Civilisten, der mit der Schlacht nichts zu thun hatte, behauptet, würde, selbst wenn es nicht wahr wäre, keine Beleidigung begründen, weil es für ihn nicht schimpflich gewesen sein würde, wenn er seinen Leib den Kugeln nicht preisgeben wollte.

Zum Thatbestand der Injurie gehört es nicht, daß derjenige, der durch sie gekränkt werden soll, auch die Kränkung wirklich empfinde, denn man kann auch ein kleines Kind, einen Geisteskranken etc. injuriiren; ebenso wenig ist es erforderlich, daß man durch eine zugefügte Beleidigung wirklich schon Etwas an seiner Ehre in der Leute Augen verloren habe, denn schon der böse Wille der Verletzung der fremden Ehre, wenn er sich bethätigt hat, bedingt die Strafbarkeit.

Einen Verstorbenen kann man zwar eigentlich nicht beleidigen, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, allein durch üble Nachreden über ihn indirect seine Angehörigen, und diese sind berechtigt dieselben zu rügen, weil sie mittelbar dadurch betroffen werden.

Auch Corporationen und ganze Stände können Gegenstand von Injurien sein, und es ist, nach einigen Gesetzbüchern, jedes Mitglied der Genossenschaft zu einem Strafantrage berechtigt. Bei der Verbreitung übler Nachreden ist der Weiterverbreiter dann straflos, wenn er seinen Gewährsmann nennen kann und die Nachrede in dem guten Glauben verbreitet hat, daß sie wirklich wahr sei.

Zu dem Antrag aus Bestrafung einer Injurie sind nächst dem Beleidigten berechtigt: der Vater (nach einigen Gesetzen die Eltern) für seine unmündigen Kinder, die Vormünder für ihre Mündel, der Ehemann für seine Ehefrau, der Vorgesetzte für den Dienstuntergebenen bei Amtsbeleidigungen. Ausnahmsweise kann auch nach einzelnen Gesetzbüchern eine Untersuchung ohne darauf gerichteten Antrag vorkommen, d. h. bei Pasquillen, öffentlichen Schmähschriften, bei thätlichen Beleidigungen gegen Eltern und Großeltern, sowie gegen Verschwägerte in aufsteigender Linie und wenn bei Verleumdungen die Absicht untergelegen hat, den Verleumdeten in Untersuchung und Strafe zu bringen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_415.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)
  1. Das österreichische Gesetz bezeichnet als Verleumdung nur die Andichtung einen Verbrechens, welches eine Untersuchung veranlassen könnte.