Seite:Die Gartenlaube (1862) 383.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

die Arbeiter. Doch glaube er annehmen zu dürfen, die letztern.“ Andere uns hier gewordene Mittheilungen über die Pariser Chiffonniers im Allgemeinen flechten wir weiter unten ein, um einstweilen der letztern „Hauptstadt“[1] in Augenschein zu nehmen.

Da ist kein Wagengerassel, kein geschäftiges Hin- und Herrennen von Menschen, kein Stoßen und Drängen, kein Rufen und Schreien. In den vier oder fünf engen Gassen herrscht eine Oede und Leere, die mit der Bevölkerung von 3000 Seelen gar nicht harmonirt. Männer bemerkte ich außer dem Portier auf der Straße auch nicht einen einzigen, was freilich darin seinen Grund hat, daß ein Theil der Einwohnerschaft den Tag über in Paris arbeitet und die Mehrzahl der Lumpensammler am Nachmittag von den Strapazen der verwichenen Nacht ausruht. Einige wenige Weiber und Kinder, die mir begegneten, trugen sämmtlich den Stempel des Elends, nicht sowohl in der Kleidung, die ziemlich sauber war, als vielmehr auf der gefurchten Stirn und in den bleichen Zügen.

An der äußersten Grenze der Colonie steht ein ziemlich großes zweistöckiges Haus. Dieses betrat ich, da mir gesagt worden war, es werde ausschließlich von Lumpensammlern bewohnt. In Begleitung des Portiers besuchte ich zwei Säle und einige Gemächer, die ces dames et ces messieurs gemeinschaftlich bewohnen. Von Betten ist darin keine Rede; pêle-mêle ruht hier Alt und Jung, Männlich und Weiblich neben seinen Lumpen am Boden. Gegen die Kälte schützt alle eine gemeinschaftliche Decke, die mit eben soviel Löchern zum Durchstecken des Kopfes versehen ist, als Personen darunter schlafen. Gewiß eine classische Einrichtung!

An Gewerbsleuten wohnen in der Cité Doré außer den bereits angeführten noch drei oder vier Wein- und Spirituosenhändler. Wollte man aber einen Bäcker ausfindig machen, könnte man lange suchen.

Um jedoch vom Oertlichen auf’s Allgemeine überzugehen, so ist es erstaunlich, was für eine Menge Individuen in Paris sich von „Lumpen“ ernähren. In den Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau leben Tausende von Lumpensammlern beiderlei Geschlechts; im Quartier Mouffetard allein mehr als fünfhundert. Als die alten Barrieren noch bestanden, waren in Paris über sechzig Lumpenhändler en gros, der vielen Detaillisten gar nicht zu gedenken. Nunmehr kann man die Zahl derselben dreist auf hundert anschlagen.

Es ist über die Pariser Lumpensammler in deutschen Blättern viel geschrieben worden, aber wenig, das einen wahren Beitrag zu ihrer Charakteristik hätte bilden können. Die meisten Correspondenten oder Berichterstatter beschränken sich eben darauf, Alles den französischen Journalen nachzuplappern, und Gott weiß, wie oft von diesen – und wenn es sich um die bekanntesten Localsachen handelt – gegen die Wahrheit gesündigt wird. Nachstehende Notizen über die Lebensweise der Lumpensammler und deren Wesen können als durchaus wahrheitsgetreu und thatsächlich betrachtet werden, da ich sie der besten Quelle, der Wirklichkeit, entnommen habe.

Ob es, wie einige Schriftsteller und Journalisten behaupteten, unter den Pariser Lumpensammlern Vicomtes und Comtes, kurz Leute giebt, die einst eine bedeutende Rolle in den Salons gespielt und eine classische Erziehung genossen haben[2], will ich dahingestellt sein lassen, obgleich mir persönlich von einem halben Chiffonnier versichert wurde, die noble Corporation zähle zu ihren Mitgliedern auch einen weiland Heidelberger Studiosus. Factisch ist aber doch, daß Gestalten und Typen unter ihnen leben, die, trotz ihrer gegenwärtigen Versumpfung, früher sich in höhern Sphären bewegt zu haben scheinen, und als erwiesen kann betrachtet werden, daß die Mehrzahl der Lumpensammlerinnen vor Jahren, als das Laster der Trunksucht ihre Blüthen noch nicht zum Fallen gebracht hatte, in demjenigen „quartier“ von Paris wohnte, nach dem Alphonse Karr gewissen dort wohnenden Sirenen den classischen Namen „Loretten“ gegeben.

Nun ist unter den einstigen Anbeterinnen der Freuden des Lebens und der Gefallsucht jede Schranke der Sittlichkeit vollends gefallen. Sie kennen nur noch einen Genuß, den des Trinkens von Spirituosen. Im Uebrigen sind sie willenlose, verkommene, von der Misere in unzerreißbare Fesseln geschlagene, jedweden Schamgefühls bare Geschöpfe.

Weniger unglücklich sind die Männer, deren illegitime Tyrannen, bei denen doch noch hin und wieder ein Fünkchen Mannestrotz anzutreffen. Aber auch die meisten von ihnen sind jenem Laster anheimgefallen, und so groß ist deren Trunksucht, daß sie lieber Hunger leiden, als nur für einmal dem gewohnten Schnapsgenuß entsagen. Das ist denn auch die Ursache des geringen Grades von Selbstständigkeit, der unter diesen Leuten herrscht. Bei ihrer Aversion gegen Alles, was Luxus heißt, die so weit geht, daß sie manchmal mit dem Straßenpflaster als Kopfkissen vorlieb nehmen, könnten sie es, auch bei ihrem geringen Lohn, in jener Eigenschaft doch noch ziemlich weit bringen, zumal die ältern von ihnen familienweise speisen und sich dabei fast ausschließlich von den Brosamen nähren, die auf ihren Kreuz- und Querzügen von den Tischen der Reichen in ihren Schnappsack gefallen. So aber sind sie oft genöthigt, ihr einziges Hemde als Pfand für ein innegehabtes Nachtlager in den Händen des Wirthes zu lassen.

Am schlimmsten von Allen sind diejenigen daran, welche, nicht im Stande, die erforderlichen Werkzeuge (Kiepe, Hacke und Laterne) sich selbst anzuschaffen, sich genöthigt gesehen haben, auf Rechnung gewisser Kleinhändler, die sie dafür complet ausrüsten – nota bene ausbeuten – zu arbeiten. Wenn solche nicht auf ihrer Hut sind und jeden Exceß wie eine Sünde vermeiden, so können sie Jahre lang Lumpen sammeln, ehe sie sich zu ihrer Selbstständigkeit „emporgesammelt“ haben. Und doch kostet diese Selbstständigkeit nicht mehr als 2 Frcs. 50 Cent., der Preis genannter Werkzeuge! Sagt diese eine Thatsache über den sittlichen Zustand der Pariser Chifonniers nicht mehr, als ein ganzes Buch darüber sagen könnte?

Herr B., der Großhändler eines Lumpengeschäfts in der Rue Lourcine, theilte mir speciell mit, daß in diversen möblirten Hotels im Quartier Mouffetard mehr als 500 Individuen (circa 270 Männer und 230 Weiber) wohnen, die sich lediglich von Lumpensammeln ernähren. Drei Viertel von dieser Bevölkerung stehen in einem Alter von 17 bis zu 36 Jahren, während kaum ein Sechstel die Grenze der Sechzig und Siebzig überschritten hat.

Die ehrenwerthen Mitglieder der Lumpensammler führen in diesen sogenannten Hotels ein wahres Zigeunerleben, insofern als sie – ganz wie in jenem Hause in der Cité Doré – in der geschwisterlichsten Vereinigung und ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes in großen Localen beisammen wohnen. Wobei freilich bemerkt werden muß, daß Jedes seinen Schatz von Lumpen sorgfältig überwacht und in dieser Hinsicht den Principien eines Louis Blanc durchaus abhold ist. Von Möbeln will der Lumpensammler in seiner Naturwüchsigkeit und Bettlereinfalt nichts wissen; dafür streckt er sich mit allem möglichen natürlichen Comfort nach seiner Decke, verschläft seine Nacht in Gesellschaft seiner Cameraden ganz poetisch, giebt dafür beim Aufstehen 15 bis 20 Centimes und hat nun das Recht, sagen zu können: „Ich logire im Gasthof zum goldenen Löwen!“

Der Chiffonnier vom Quartier Mouffetard geht regelmäßig zwischen fünf und sechs Uhr Abends zu Bette und steht um elf Uhr wieder auf. Wenn der Lärm in den Straßen von Paris anfangt schwächer zu werden, schleicht jener sich aus seinem obscuren Schlupfwinkel fort nach den Stadttheilen der Wohlhabenden, denn hier harren seiner die besten und feinsten Brocken.

Nachts um die zwölfte Stunde
Verläßt der Sammler sein Haus,
Macht mit der Blende die Runde,
Trotz Wetter, Sturm und Graus.

Das ist die erste Runde. Hat er sie am frühen Morgen, etwa zwischen Zwei und Drei, der einzigen Stunde, wo Paris schläft, beendigt, so kann man sicher sein, daß er sich in der Nähe einer Anstalt befindet, wo für Geld und gute Worte Schnaps und Brod zu haben ist. Denn die Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen: sein Instinct führt ihn nie irre, und er wittert die Morgenluft mindestens ebenso gut wie der Rappe in Bürger’s „Lenore“.

Wenn nun der Lumpensammler das Glück hat, in seiner Morgenkneipe nicht vor Müdigkeit oder aus irgend einer andern Ursache unter den Tisch zu fallen – was gar nicht selten vorkommen soll – so rafft er sich gegen sechs Uhr auf, wappnet sich auf’s Neue mit Kiepe und Hacke und tritt seine zweite, die Hauptrunde,

  1. Gründer derselben war ein Herr Doré, von dem sie auch den Namen führt.
  2. Wenn ich nicht irre, erzählte der verstorbene Freund Heine’s, Gerard von Unwel, einst in einem Pariser Journal von einem Chiffonnier, der ihn in der Nacht beim Nachhausegehen auf lateinisch angeredet, und mit dem er sich dann eine Zeitlang in dieser Sprache unterhatten habe.      D. Verf.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_383.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)