Seite:Die Gartenlaube (1862) 372.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

meinte, abgesandt gewesen, hatte ihn die Unsicherheit des Erfolgs nirgends mehr rasten lassen, und nur seiner Ungeduld folgend, hatte er sich am Morgen in die Nähe der elterlichen Wohnung gewagt.

Da war er auf den Büreaudiener getroffen, dessen niedergeschlagene Miene ihm noch schneller sein augenblickliches Schicksal verkündet, als der übergebene väterliche Bescheid, welcher ihn dann zu seinem letzten nutzlosen Versuche aufgestachelt.

Ueber alle den Bildern, wie sie jetzt als Wiederholung der eben durchlebten Scene seinen Kopf füllten, stand der einzige klare Gedanke: daß ihm kein anderer Weg bleibe, als nach Berlin zurück zu kehren und sich freiwillig dem Gerichte zu stellen; er vermochte jetzt nicht, ihn näher zu prüfen oder weiter zu verfolgen, aber er fühlte mit einer Art Erleichterung, daß dadurch wenigstens die peinigende Ungewißheit der letzten Tage geendet werde.

Als er sich Römer’s Hause, welches Comptoir, Niederlagen und die getrennten Wohnungen von Vater und Sohn in sich vereinigte, näherte, sah er den Freund, augenscheinlich nach ihm ausblickend, in der Eingangsthür stehen.

„Eine Entscheidung?“ fragte dieser, dem rasch Herangetretenen forschend in die Augen sehend.

„Eine Entscheidung!“ nickie der Referendar, das Haus betretend, finster. „Heute noch wirst Du mich loswerden, Fritz, und morgen denke ich ein wohlverwahrtes Quartier in Berlin einzunehmen. Ich habe ihm zwei Worte abgezwungen – er hält es für seine Pflicht als Beamter, mich dem Untersuchungsrichter zu übergeben; das kann ich aber selbst und auf eine mir angenehmere Weise thun! Ich hätte nichts Anderes erwarten sollen, aber das eigene Herz hat mich blind gemacht!“

Sie hatten schweigend neben einander die Treppe nach dem oberen Stock erstiegen. „Es ist während Deiner Abwesenheit Nachricht aus Berlin von dem jungen Mangold eingelaufen,“ begann endlich Römer, die Thür eines der Zimmer öffnend; „vielleicht findest Du hier etwas Tröstliches!“ Er schritt dem Freunde rasch voran und reichte ihm einen auf dem Tische bereit liegenden Brief; Hugo aber streckte nur langsam die Hand danach aus.

„Tröstliches!“ wiederholte er nach einem Blick auf das Couvert, „ich wüßte wahrlich im Augenblicke kaum, was mir tröstlich sein könnte. Und wenn mir jetzt gesagt würde, daß ich mein ganzes Unglück nur geträumt habe, so war doch die letzte Stunde eine Wirklichkeit, die einen ganz verhängnisvollen Schatten auf meine fernere Zukunft wirft. Ich sehe gar keinen Zweck mehr, mich in einem Berufe abzuquälen, an dem ich eben so viel Freude habe, als etwa das Pferd an seiner Tagesarbeit. Sieh, Fritz, die einzige Genugthuung, welche ich bis jetzt darin gefunden, war das Bewußtsein, meinem Vater gegenüber als wohlgerathener Sohn, der im regelmäßigen Gleise vorwärts geht, sich keine Extravaganzen zu Schulden kommen läßt und das ihm ausgesetzte Quantum in der vorausbestimmten Weise verwendet, dazustehen. Das ist zu Ende; auch würde mich keine Noth dazu bewegen können, nach dem heutigen Auftritte von meinem Vater noch einen Pfennig für meine Subsistenz anzunehmen. Und kann ich von den geringen Zinsen meines mütterlichen Vermögens, die ich bis jetzt für meine sogenannten Allotria verwandt, nicht leben, so muß ich eben mit dem Capital suchen, mir irgend eine andere Stellung, die mich nährt, zu verschaffen – meine bisherige Zukunft aber ist heute unter allen Umständen in Trümmer gegangen. Was da weiter kommt, wird sich zeigen, sobald ich mich dem Gerichte gestellt, und wenn es etwas Tröstliches für mich giebt, so ist es meine Sicherheit über diesen nächsten Schritt, ohne den sich überhaupt an keine Zukunft für mich denken ließe. Für Dich, Fritz,“ fuhr er lebendiger fort, als habe das unverhohlene Aussprechen ihn erleichtert; „für Dich keimt vielleicht eine Myrthe aus meinem augenblicklichen Ruine auf; – ohne alle Sentimentalität!“ unterbrach er sich, als sich das trübe Gesicht des Freundes wie zu einem raschen Widerspruche hob, „ich fühle jetzt, daß es bei der starren und vielleicht noch mißleiteten Denkweise meines Vaters, auch ohne den jetzigen Anlaß, über kurz oder lang zu einem Bruche zwischen uns gekommen wäre! Helene scheint sonderbar aufgewacht und zu einer merkwürdig richtigen Anschauungsweise der Verhältnisse gelangt zu sein. Laß sie eine entschlossene Stütze fühlen, Fritz, und ich denke, mein Vater wird zu sich selbst kommen, wenn er vielleicht an das Verstoßen eines zweiten Kindes gehen möchte!“

„Denke jetzt einmal nur an Deine Verhältnisse und lies Mangold’s Brief,“ erwiderte Römer, die Hand auf des Freundes Schulter legend; „ich habe fast gewußt, wie Alles kommen würde, und mag Dir jetzt am wenigsten rathen; aber in allen Lebenslagen magst Du auf mich rechnen, Hugo, wie man nur auf einen Freund und Bruder rechnen darf!“

(Fortsetzung folgt.)




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 4.     Die Wildheuer.

Wildheuer? Lieber Leser und liebenswürdige Leserin, wenn Sie einmal zu uns in die Schweiz kommen und durch ein felsenummauertes Hochthal wandeln sollten, dann vergessen Sie nicht, so bei einer sechs- bis achttausend Fuß hohen, zuweilen senkrecht abstürzenden, zuweilen mehr oder minder wild zerklüfteten Felsenwand stehen zu bleiben, ein gutes Fernglas aus dem Futteral zu ziehen und da recht aufmerksam hinaufzuschauen. Fast an jeder dieser Cyclopenmauern werden Sie hin und wieder schmälere oder breitere Bänder oder Vorsprünge bemerken, zuweilen eine kleine Ebene, die, wie ein Balkon an einem hohen Schlosse, in den Wolken zu hängen scheint, bald einen sanfteren Abhang bildend, der eben nicht viel steiler und abschüssiger als das Dach Ihrer heimischen Stadt- oder Dorfkirche ist. Diese luftigen, mit unbewaffnetem Auge aber kaum erkennbaren Plätzchen nehmen sich, im Gegensatze zu der grauen, monotonen Farbe der öden Felswand gar hübsch und erquickend aus, denn sie leuchten, besonders wenn ein Gewitter im Anzuge ist, oder gar die niedergehende Sonne das Gebirge in goldenen Lichtglanz hüllt, bevor das eigentliche Alpenglühen eintritt, im brennendsten Smaragdgrün wie eine Oase im gelben Wüstensande. Sie haben jetzt ein solches hübsches Fleckchen entdeckt? – Gut. Das ist eine Domäne der Wildheuer. Ein buchstäblich hoch gehängter Brodkorb! – siebentausend Fuß über der Meeresfläche, keinen Zoll weniger. Es ist kein Scherz! Sie suchen vergebens nach der Spur eines Weges, der zu dem luftigen Besitzthum hinaufführte! Wenn Sie aber Ihre Augen etwas schärfer anstrengen, werden Sie einen dunkeln Streifen bemerken, der sich in wunderlichen Krümmungen an der kahlen Felswand hinschlängelt und in allerlei Zickzackwindungen an der Felsenwand über dem Abgrunde hinführt und oben über dem saftig grünen Grasplätzchen wegstreift. Das ist ein Weg, wie extra für den Wildheuer geschaffen. Außer ihm, seinem schwindelfreien Buben und seiner gutkletternden Ziege, die als Marketenderin zuweilen den Feldzug in’s Gebiet der Wolken mitmachen muß, außer der Gemse und dem dieser überall nachkletternden Jäger wird diese Straße freilich nicht so leicht Jemand betreten, denn sie führt überall über schwindelndem Abgrunde hin, und es giebt Stellen darauf, die gerade noch breit genug sind, um die derbbeschuhten Füße einen vor dem andern darauf hinsetzen zu können. Das hindert den Wildheuer aber nicht, wenn er zurückkehrt, eine schwere Bürde duftenden Bergheu’s auf seine Schultern zu laden und sie den grausenerregenden Weg hinab auf einen geschütztern Platz zu tragen.

Ist in jenen kalten Regionen, wo selbst der letzte Baumwuchs aufgehört hat, und nur die Legföhre noch ein zwerghaftes, verkümmertes Dasein sich zu fristen vermag, endlich gegen Ende Juli nach kaum bemerkbarem Frühling der kurze Sommer eingetreten, so hat die scheinbar starre Natur auch auf jenen isolirten Plätzchen ein feines, kurzes, dünnhalmiges Gras hervorgetrieben, das, zu Heu getrocknet, den lieblichsten Duft ausströmt, mit außergewöhnlicher Kraft auf die Milchergiebigkeit der Kühe wirkt und von vielen Alpenbauern sogar als Medicin gegen die Krankheiten des Viehs gebraucht wird, so daß fast in jeder Alphütte ein Bündel davon das ganze Jahr über aufbewahrt wird, um in vorkommenden Fällen das Arcanum immer gleich bei der Hand zu haben. Mitte August

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_372.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)