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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ausdruck, das phonetische oder euphonische, welches nach Wohlklang strebt. In der Entwickelung der Sprachen erhält meistentheils das erste Element das Uebergewicht. Die Sprache gewinnt an Formgewandtheit und Wortreichthum, verliert dagegen an Wohlklang. sie schleift sich immer mehr ab. In unserer Sprache kann man diesen Entwickelungsgang nicht klar erkennen, wenn man nicht die neue Sprache mit der alten geradezu vergleicht, weil unsere Orthographie den eintretenden Veränderungen folgt. In Sprachen, wo das nicht der Fall ist, kann man dagegen dieses Abschleifen der Sprachen recht klar sehen. Man nehme die französische oder englische. Welch eine Menge von Buchstaben brauchen diese Sprachen zum Schreiben, die in der Rede nicht ausgesprochen werden, in der Rede, im lebendigen Worte, also in der eigentlichen, wirklichen Sprache gar nicht vorhanden sind. Diese Buchstaben sind vordem allerdings alle mehr oder weniger wirklich ausgesprochen worden. Im Laufe der Zeiten hat aber die sich stets verändernde Aussprache sie weggelassen, während die Orthographie sie beibehalten hat. Die Sprachen schleifen sich also fortwährend ab, wobei sie natürlich an Wohlklang immer mehr verlieren, wovon namentlich die englische ein schlagendes Beispiel giebt.

Auch unsere Muttersprache ist diesen Wandlungen unterlegen. Auch sie hat sich abgeschliffen und an Wohlklang verloren. Beobachtet man die große Masse der schlechtbetonten Endungen unserer Wörter auf e, en, er, el u. s. w., so wird man das leicht erkennen. Allein jede Sprache erreicht einmal einen Höhepunkt der Ausbildung, gewissermaßen eine Blüthe. Das ist die Zeit der classischen Dichtung jedes Volkes. Vergleicht man das Deutsch, wie es vor 150 Jahren geschrieben wurde, mit dem Deutsch eines Lessing, Schiller, Goethe, so wird man den gewaltigen Unterschied sehen, man wird erkennen, zu welcher Höhe der Bildung diese Männer und andere neben ihnen unsere herrliche Muttersprache gebracht haben. Sie auf dieser Höhe möglichst zu erhalten, ist gewiß eine Aufgabe, welche das ganze Volk auf das Wesentlichste angeht. Allein wie wird diese Aufgabe gelöst? Vor der Hand nur durch das Theater. Die Nachlässigkeit der Umgangssprache ist es, die das Abschleifen, das immer Tonloserwerden der Sprache an sich herbeiführt. Dieser Nachlässigkeit kann nur durch einen mit Bewußtsein geübten, durch einen künstlerisch geschulten Vortrag ein Halt geboten, ein Damm entgegen gesetzt werden. Diesen künstlerischen Vortrag, die Berücksichtigung der Schönheit der Sprache, finden wir aber bis jetzt nur im Theater, in der Schauspielkunst. Sie also ist es, welche das fortschreitende Verderben der Sprache, wenn nicht ganz verhindert, doch wenigstens aufhält, verzögert. So lange Schiller, Lessing, Goethe noch auf unseren Bühnen Platz finden, muß auch die Sprache in der Ausbildung gesprochen werden, die sie ihr verliehen haben.

Wer möchte leugnen, daß in dieser Beziehung das Theater vom höchsten Werthe für das ganze Volk ist?

Für unsere Verhältnisse kommt noch ein anderer Umstand dazu. Jede Sprache zerfällt in verschiedene Mundarten, unsere in unzählige. Bei allen Völkern hat sich eine der verschiedenen Mundarten besonders ausgebildet und ist dadurch zur Schriftsprache geworden. So die atheniensische bei den Griechen, die toscanische bei den Italienern, so die Mundarten von Paris und London für die Franzosen und Engländer.

Anders bei uns. Unser Hochdeutsch ist keine Mundart, die von irgend einem Volksstamme wirklich gesprochen wird. Obwohl in der meißnischen Mundart wurzelnd, hat es sich von der Zeit an, als diese zur allgemeinen Schriftsprache erhoben wurde, weit mehr durch Schreiben als durch Sprechen, weit mehr durch die Feder der Schriftsteller, als durch den Mund des Volkes ausgebildet.

Ob dies ein Vorzug oder ein Nachtheil ist, mag dahingestellt sein, Thatsache ist es, daß unsere Schriftsprache, wie sie uns gedruckt vorliegt, von keinem Volksstamme gesprochen wird. Allerdings sprechen die sogenannten Gebildeten in den meisten Gegenden hochdeutsch. Allein abgesehen davon, daß die Gebildeten nicht das Volk sind, so finden sich auch bei ihnen überall mundartische Anklänge. Eine Sprache aber, die nicht gesprochen wird, ist eine todte. Sollen wir das von unserer Sprache sagen, in der noch immer das volle Leben der Entwickelung und Bildung pulsirt? Nein, sie ist noch lebendig, aber – nur auf dem Theater. Das Theater ist der einzige Ort, wo Hochdeutsch überall, von den Alpen bis zur Nord- und Ostsee, vom Rheine bis zur Oder, gesprochen wird. Und so ist das Theater die Bewahrerin des Lebens unserer Schriftsprache und – die einzige Schule für die Aussprache derselben. – –

Wie weit das heutige Theater diese würdigen Aufgaben alle wirklich löst, mag hier unerörtert bleiben. Diejenigen aber, die ein Recht zu haben meinen, darüber zu grollen, daß das Theater seinen Aufgaben nicht gewachsen sei, mögen dazu beitragen, daß die Gesichtspunkte sich ändern, daß seitens des Staates und des Volkes das Theater nicht als eine bloße Vergnügungsanstalt betrachtet, sondern daß seine Bedeutung und der Werth, den es theils hat, theils haben könnte, immer mehr anerkannt und gewürdigt werde.

So fern es der Gartenlaube auch liegt, sogenannte Theaterberichte zu bringen, so wird sie doch die Schauspielkunst in den Beziehungen, die sie wirklich zum Entwickelungsgange des deutschen Lebens theils hat, theils haben sollte, nicht von den Gegenständen ausschließen, die in ihren Spalten einen Platz finden. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, verdienen auch die hervorragenden Künstler in dem besprochenen Fache die Aufmerksamkeit derselben, und so bringt sie das Bild einer bewährten Künstlerin. Fanny Janauschek, im Anfang der dreißiger Jahre in Prag geboren, ist in ihrem Fache eine der bedeutendsten Künstlerinnen. Namentlich versteht sie es, die tragischen, hochpoetischen Gestalten unserer Dichter zur kräftigsten, lebensvollsten Anschauung zu bringen. Sie hat ihre volle Ausbildung an dem Theater zu Frankfurt a. M. vollendet, gehört jetzt dem Hoftheater zu Dresden als Mitglied an und hat sich in den letzten Jahren durch zahlreiche Gastspielreisen einen wohlverdienten Ruhm erworben. In Rollen wie Maria Stuart, Orsina, Eboli, Milford, Elisabeth, Phädra, Medea u. a. m. mag sie gegenwärtig wohl den ersten Rang unter den deutschen Künstlerinnen einnehmen.




Eine deutsche Bitte für das arme Volk der Esthen.

Von Friedr. Hofmann.
(Schluß.


Trotz ihrer für den eigenen Erwerb so fest gebundenen Hände wälzte man den Esthen noch eine Last um die andere auf. Eine sehr schwere ist die Fouragelieferung für die Postpferde, zu der ausschließlich die Bauern verpflichtet sind. Sie beträgt an Geldwerth mehr als die Kopfsteuer, im Durchschnitt gegen 134,000 R. S., und sie kommt ausschließlich den Edelleuten zu Gute, die außerdem nur die Hälfte des gesetzlichen Postgeldes zu zahlen haben und in den schlimmen Jahreszeiten die Post am häufigsten benutzen, um ihre eigenen Pferde zu schonen.

Der schwerste Hemmschuh für das Vorwärtskommen der Bauern ist aber, neben der Hauszucht, der Hülfs-Gehorch. Er verpflichtet den Pächter, mit seinem gesammten Gesinde gerade zur Heu- und Erntezeit zuerst und einzig des Herrn Arbeit zu verrichten: er darf nicht zugleich dem Herrn und seinem eigenen Vortheil dienen, sondern er muß das Seine auf Feldern und Wiesen zu Grunde gehen lassen, wenn die Witterung nicht so gnädig ist, nach dem Hülfs-Gehorch auch ihm noch einige gute Feldarbeitstage zu schenken. Durch diesen unmenschlichen Zwang geht Jahr um Jahr dem Bauern ein Theil, ja oft der größte Theil seiner Ernte verloren.

So hatten denn die esthnischen Herren in allen ihren Forderungen an die Bauern nicht nur die Grenzen des Menschenmöglichen erreicht, sondern sie waren weit darüber hinaus gekommen. Der Bauer konnte nicht leisten, was von ihm herausgezwungen werden sollte, und deshalb fiel es dem Adel nicht hart, freiwillig von seinen Rechten den Pächtern Manches nachzulassen, und das waren dann die Opfer und Gnaden, auf die sich derselbe in seinen öffentlichen Aeußerungen, namentlich der Regierung gegenüber, so viel zu Gute that.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_343.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)