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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sah sie den Geliebten mit den zärtlichsten Blicken an – „bin ich erst Dein Weib, Dein sterbliches Weib, dann werde ich auch Mutter werden und in Kindern und Kindeskindern fortleben. Solches Glück wiegt tausendfach alle Macht auf, die ich dafür hingebe, und Dir werde ich es zu danken haben, wenn Du treu noch ausharrst bis an’s Ende.“

Für den nächsten Tag hatte endlich Bäteli sich frei zu machen gewußt von ihren Pflichten, und sie erschien in Grindelwald, um auszuführen, was sie sich vorgenommen hatte. Von Allen, die sie befragte, selbst von dem alten Vetter, erhielt sie die Bestätigung, daß der Adler-Fritz wirklich Verkehr mit der Eisjungfrau in dem Gletscher habe, und je tiefern Schmerz ihr dies bereitete, um so fester wurde ihr Entschluß, Alles aufzubieten, um ihn, wenn es noch möglich sei, aus solcher verderblicher Zaubergewalt zu retten. Manche alte Frau und manchen alten Mann fragte sie im Vertrauen – ohne zu verrathen, warum sie es zu wissen wünsche – ob sie jemals gehört hätten, daß der freiwillig gegebene Kuß einer Jungfrau einen Mann vor der Macht und dem Treiben der bösen Geister schütze, die ihn in Versuchung führten, oder ob sie gar wüßten, daß dieses Mittel einmal sich in der That wirksam erwiesen hätte. Einige wußten gar nichts von der Sache, Andere hatten wohl gelegentlich einmal einen darauf bezüglichen Spruch gehört, konnten aber sonst keine Auskunft geben. Nur eine sehr alte Frau betheuerte, die Sache sei richtig, denn als sie noch jung und – wie sie wohlbedächtig hinzusetzte – hübsch gewesen, habe ein junger Bursch, dem die schlimmen Bergmädchen auf allen Wegen und Stegen verführerisch nachgestellt, sie selbst um einen Kuß gebeten, um endlich vor solchen Versuchungen gesichert zu sein. Sie habe ihm nach langem Sträuben endlich den Kuß auch gegeben und der Bursch ihr später oft gesagt, daß ihm seitdem nie wieder ein gespenstisches Bergmädchen erschienen sei.

So konnte denn Bäteli nicht mehr zweifeln und sie bereitete sich vor, ihrer Christenpflicht gegen Adler-Fritz nachzukommen.

Bevor sie jedoch diesen entscheidenden Schritt that, begab sie sich in die Kirche, trug ihr Vorhaben dem Geistlichen vor, fragte ihn, ob sie wohl und recht daran thue, und erbat sich seinen Segen. Der alte fromme Priester rieth ihr nicht davon ab. Er war klug und kannte die Menschen, namentlich die Jugend. Vielleicht, mochte er denken, erweckt dieser Schritt des schönen Mädchens in dem Herzen des Jägers eine Neigung zu ihr, und diese lenkt ihn dann von anderen, von sündigen Gedanken ab, was allerdings die beste und sicherste Heilung sein mußte.

Der Geistliche unternahm angeblich nur einen Spaziergang, aber er richtete seine Schritte nach dem Häuschen des Jägers hin. Dieser saß, da die Sonne sich bereits anschickte, zu Rüste zu gehen, auf der Bank vor der Thür, in der Hoffnung, daß die Alpen auch heute glühen und ihn so zu der Geliebten bescheiden würden.

Der alte Mann, den der Gang in der That ermüdet hatte, bat, ihn auf der Bank eine kurze Zeit ausruhen zu lassen, und begann ein gleichgültiges Gespräch mit dem Jäger, dem der Besuch sichtlich lästig und sehr ungelegen war. Bald indeß kam er auf das Gerücht, daß der Adler-Fritz sündhafter Zwecke wegen häufig, und zwar in der Nacht, den Gletscher oben besuche. Er wolle, sagte er, nicht glauben, was man erzähle, aber leider habe er ihn allerdings ungebührlich lange nicht in dem Beichtstuhle gesehen.

Der Adler-Fritz schwieg trotzig still, der Geistliche aber fuhr fort, wenn seine väterlichen Ermahnungen auf Widerspenstigkeit träfen, werde er sich genöthigt sehen, der Pflicht, die ihm die Kirche als ihrem Diener auferlegt, nachzukommen, und ihn mit schwerer Strafe belegen müssen. Die heilige Kirche sei eine nachsichtige und langmüthige Mutter, die lange zögere, ehe sie zu strengen Mitteln greife, verstockte Sünder aber wisse sie gar empfindlich zu züchtigen, ihnen selbst zum Heil und Andern zu warnendem Beispiel.

Adler-Fritz stand auf, unbewegt durch die Ermahnung, ungeschreckt durch die Drohungen. Er schaute erwartungsvoll nach dem Gipfel des Wetterhorns hinauf, ob sich ein Anfang des Glühens zeige, denn die Sonne war untergegangen. Als sich in der That ein leichter goldiger Schein zu zeigen begann, der stärker und stärker wurde, wuchs in gleicher Weise in seiner Seele die Zuversicht, und er antwortete:

„Ich werde mir die Braut vom Gletscher holen, und kein Priester soll mich daran hindern.“

„Bei dem Gekreuzigten,“ entgegnete der Priester, indem er das kleine Crucifix an seinem Rosenkranze gegen den Jäger erhob, „beschwöre ich Dich, gedenke Deines Heils und fürchte den Zorn der Kirche, der das Schrecklichste auf Erden ist und fortwirkt durch alle Ewigkeit!“

„Mich schützt die Herrin der Berge, und zu ihr reicht selbst der Zorn und der Fluch der Kirche nicht,“ sagte Adler-Fritz im festen Vertrauen auf die Liebe derjenigen, welche er seine Braut nannte. Er stieß die Hand des alten Geistlichen barsch zurück, die ihn fassen und zurückhalten wollte, und ging mit schnellen Schritten dem nahen Eismeere zu.

Er hatte soeben den Fuß auf den Gletscher selbst gesetzt, als Bäteli fast athemlos ihm nachstürzte und ihm zurief: „Adler-Fritz, Gott sei Dir gnädig! So hast Du mir geheißen für Dich zu beten, und so that ich seitdem jeden Abend und jeden Morgen. Gott wird Dir gnädig sein, wenn Du nicht mehr sündigst.“

Der Jäger blieb stehen, ungewiß, was er thun sollte, denn das Erscheinen und die Worte des Mädchens ergriffen ihn mächtig.

„Ich weiß, daß Du zu der Eisjungfrau gehst,“ fuhr Bäteli fort, „ich weiß, daß Du sie liebst und von ihr geliebt zu werden glaubst. Aber sie ist ein böser Geist, und nie kann sie Dein Weib werden. Sie lockt Dich jetzt durch Lügen, und wenn sie ihren Zweck erreicht hat, bist Du Dein Leben lang elend und in aller Ewigkeit verdammt. Der Priester sagt es, und alle Leute sagen es. Liebtest Du ein anderes Mädchen, ich wollte mich Deines Glückes freuen, bräche mir auch das eigene Herz dabei. Es ist schwer, von seiner Liebe zu lassen, ach, sehr schwer, aber, Adler-Fritz, geh nicht mehr zu der Eisjungfrau!“ bat sie mit emporgehobenen gefalteten Händen, indem sie sich abwehrend dicht vor ihn stellte.

Der Jäger zögerte, obgleich die Gipfel der Berge im feurigsten Glanze glühten. Endlich sagte er entschuldigend: „ich muß, Bäteli,“ und er wollte weiter, an ihr vorüber, gehen.

„So muß auch ich!“ rief das Mädchen. „Gott verzeihe mir, wenn es eine Sünde ist!“

Während sie in eiliger Hast so sprach, schlang sie kräftig die Arme um den Bestürzten und drückte ihm die Lippen auf den Mund.

Adler-Fritz wußte nicht, wie ihm geschah, und er ließ sich halten, ohne sich zu sträuben.

„Den Kuß gebe ich Dir nur, weil ich weiß, daß er Dich schützt vor dem bösen Zauber, der Dich erfaßt hat,“ setzte das Mädchen hinzu und ließ verschämt die Arme sinken.

„Bäteli,“ begann Adler-Fritz, „Bäteli, liebst Du mich? Wenn Du mich liebtest …“

Er konnte nicht weiter sprechen, denn mit betäubendem Krachen riß ein weitklaffender Spalt durch das Eis des Gletschers, gerade da, wo sie standen, und Beide sanken in die schauerliche kalte Tiefe hinab. Von allen Seiten fielen dumpfdröhnend Lawinen nieder. Das ganze „Eismeer“ kam in Bewegung. Die sonst ebene Fläche hob sich und senkte sich wie in Wellen, und mit schauerlichem Knirschen und Donnern schob sich einer der neu sich bildenden Eisberge über den anderen näher und näher der Stelle, an welcher die Matte begann, auf der das Häuschen des Adler-Fritz nebst einigen wenigen andern stand. Langsam zwar, aber mit unwiderstehlicher Gewalt, eine furchtbare Eislava, bewegte sich die Masse vor- und abwärts und drohte die Matte sammt den Häusern zu begraben. Die Bewohner gewahrten mit Grausen das Entsetzliche und flohen, um nur das nackte Leben zu retten, denn immer näher, immer schneller, immer gewaltiger, je mehr der Boden sich senkte, wälzte sich der Gletscher hernieder. Bald waren die Häuser zerdrückt unter seiner Wucht und begraben unter thurmhohem Eise, das erst still zu stehen begann, als es die Thalsohle erreicht hatte.

Der alte Priester und die Fliehenden erreichten zitternd das Dorf, von Bäteli aber und vom Adler-Fritz sah man nie wieder eine Spur, und der Gletscher liegt heute noch dort, wo sonst die Matte grünte.

Die Eisjungfrau hat seitdem Niemand wieder in der Nähe gesehen, aber stets, wenn Zwei einander küssen in ihrem Bereiche, gedenkt sie des Adler-Fritz, der ihr durch den Kuß einer Jungfrau entrissen wurde, ihr Zorn erwacht dann von Neuem, und er trifft die Küssenden unfehlbar, wie er den Jäger und die fromme Bäteli getroffen hat.“



 

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