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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Im Grindelwald-Gletscher.

Von A. Diezmann.
(Schluß.)

„In solch schmerzlich unruhig bewegter Stimmung traf sie eines Tages der Sohn ihres Herrn, dessen Eigenthum die schmucken Kühe waren, deren Pflege man ihr anvertraut auf der Alp. Er kam, um nach dem Vieh zu sehen, sagte er, aber ihn reizte das liebliche Mädchen, die einsam in dieser Höhe wohnte. Schon mehrmals hatte er sich ihr anders genähert, als es ihr, der Magd, nach ihrer Meinung zukam. Er hatte selbst von Liebe zu ihr gesprochen, sie ihn aber stets, wenn auch mit sanft bescheidenen Worten, zurückgewiesen, denn ihr mißfiel der begehrlich lüsterne Blick seiner Augen, und sie wußte gar wohl, daß der stolze Sohn des reichen Bauers die arme Magd nicht als Hausfrau in seinen Hof einführe. Als er auch diesmal von dem Mädchen, und zwar spröder und ernster als sonst, abgewiesen wurde, sagte er endlich mit höhnendem Spotte:

„Du hast wohl gar Einen der Schräteli, der grauen Bergmännchen, zum Schatz, die überall um die Sennerinnen herumschleichen, ihnen bei der Arbeit helfen und sie zuletzt verführen?“

„Gott verzeih’ Dir Deine sündhaften Reden!“ entgegnete Bäteli, indem sie sich bekreuzigte.

„Nun, Jemand muß Dir helfen, denn immer, wenn ich komme, ist alle Arbeit gethan. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, wenn Du auch fleißig bist, wie ich weiß. Und daß Du Keinen liebtest, wie Du sagst, glaube ich Dir nicht.“

Bäteli erröthete, schlug die Augen nieder und antwortete nicht.

„Sieh Dich vor, daß es Dir nicht ergeht, wie dem Adler-Fritz unten,“ fuhr der Bursche fort.

„Dem Adler-Fritz?“ fragte das Mädchen verwundert und erschreckt, und sie blickte rasch auf, so daß der junge Bauer wohl hätte errathen können, wem ihr Herz zugewandt, aber er schrieb ihre hastige Frage einer gewöhnlichen Neugierde zu.

„Er soll der Geliebte der schrecklichen Eisjungfrau sein,“ erzählte er ihr, als sie ihn in banger Angst fragend ansah. „Gewiß ist, daß er fast jede Nacht auf den Gletscher geht, zu ihr in das Eisschloß hinein, wie es heißt, und kaum erkennt man ihn wieder, so schwach und matt ist er geworden. Sie saugt ihm das Leben aus, sagen die Leute, und er muß bald sterben.“

Bäteli faltete die Hände und betete laut und inbrünstig, indem sie die sanften Augen zum Himmel aufschlug: „Gott sei ihm gnädig!“

Ihr Herz empfand jetzt nicht die mindeste Eifersucht, nur das innigste Mitleiden mit dem Unglücklichen, der sein junges Leben in solcher Weise verlieren sollte und seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht, denn sie glaubte so fest, wie an ihren Gott, daß der Mensch nimmer selig werden könne, der schon hier mit Geistern, mit bösen Geistern, verkehre.

„Bäteli,“ fuhr der junge Bauer fort, „ich fürchte mich auch immer vor den Bergmädchen, die zwar gar verlockend aussehen, aber Geisfüßchen haben, und nur um vor ihnen sicher zu sein, bitte ich Dich heute, wie schon oftmals, um einen Kuß von Dir. Ein solcher ist ja das beste Schutzmittel gegen alle solche verführerischen Geister, wie der Spruch sagt, den Du gewiß kennst:

Wen einer Jungfrau reiner Kuß geweiht,
Der ist vor aller Geister Macht gefeit.“

Dabei versuchte er den Arm um den schlanken Leib des Mädchens zu legen und sie zu küssen, aber mit unerwarteter Kraft machte sie sich von ihm los und stieß ihn von sich.

„Nicht einmal Dich küssen lassen willst Du?“ sagte er im beleidigten Herrenstolze. „So gehe hinunter und rette durch Deinen „reinen“ Kuß den Adler-Fritz, der Dir vielleicht besser gefällt, weil er nichts hat, wie Du,“ setzte er in bitterem Hohne hinzu.

Darauf ging er mit großen Schritten hinweg, ohne dem umher weidenden Viehe nur einen Blick zuzuwenden und ohne zu ahnen, in welcher Seelenpein er das Mädchen zurückließ. Ihr war, als müsse ihr das Herz stillstehen in der Brust, oder als läge eine Last auf ihr, die ihr den Athem benehme. Sie wollte fort, aber die Glieder waren ihr wie erstarrt, so daß sie dieselben kaum zu regen vermochte. Im Kopfe war es ihr so wirr, daß sie keinen Gedanken festhalten konnte, wie viele und wie verschiedene sich auch darin drängten. Sie setzte sich auf einen Stein, und erst als die gewaltige Spannung in ihr sich durch Thränen in etwas gelöset hatte, fühlte sie sich ein wenig erleichtert. Nicht daß der Adler-Fritz nun für sie verloren war, denn sie hatte ja nur eine leise Hoffnung gehegt, daß sie ihn vielleicht einmal den Ihrigen nennen dürfe – sondern daß sein Seelenheil verloren sein müßte, bekümmerte sie so sehr. Dann fragte sie sich, ob auch Alles, was sie vernommen, wahr sei. Das zu ermitteln, galt ihr als nächste Aufgabe, wie als die höchste, ihn zu retten. Darum nahm sie sich fest vor, nach Grindelwald hinunter zu gehen, sobald es ihr gelungen, eine Bekannte zu vermögen, einen Tag lang ihre Arbeit oben auf der Alp zu übernehmen. Viel aber machte ihrem Mädchenherzen auch der Spruch zu schaffen, welchen ihr junger Herr erwähnt hatte und nach dem der Kuß einer Jungfrau den Zauber der bösen Geister brechen sollte. Sie war allerdings abergläubig genug, eine solche Kraft des Kusses für möglich zu halten, gern aber hätte sie die Hälfte ihres Sennerlohnes darum gegeben, wenn ihr Jemand dafür gebürgt, daß ein Kuß, und zwar gerade in dem vorliegenden Falle, in der That die bezeichnete Wirkung habe und daß man Beispiele kenne, in denen dieses Mittel Schutz und Hülfe gewährt. Aber wenn dies auch der Fall war, durfte und konnte sie, eine züchtige Jungfrau[WS 1], einem Manne mit einem Kusse entgegen kommen?

Lange kämpfte in ihr die jungfräuliche Scham und der jungfräuliche Stolz mit der Menschen- und Christenpflicht, denn für eine solche hielt sie es, zu der Rettung eines Unglücklichen aus der Macht eines bösen Feindes nach Kräften beizutragen, also auch, in solch äußerstem Nothfalle, einem jungen Manne freiwillig einen Kuß entgegen zu bringen. Endlich wurde sie aber doch mit sich einig, dies Rettungsmittel an dem Adler-Fritz zu versuchen, wenn erfahrene Leute in Grindelwald die sichere Wirksamkeit desselben ihr bestätigt haben würden.

Indeß setzte der, um dessen willen sie alles dies litt, seine Besuche in dem Eispalaste immer freudiger fort, denn seine Kräfte nahmen nicht mehr in dem Verhältnisse ab, wie im Anfange, weil nicht mehr so eisige Kälte von der geheimnißvollen Braut in ihn überging, im Gegentheil ihr Athem ihn bereits lau anwehte, in ihren Gliedern Wärme sich zu entwickeln und selbst ihr sonst so starrer Busen sich leicht zu heben und zu senken begann. Je ähnlicher sie einem sterblichen Mädchen wurde, um so leidenschaftlicher zeigte er sich in seinen Liebkosungen, die sie nicht nur entzückt hinnahm, sondern auch nicht minder stürmisch erwiderte. Wenn er sich sonst bald erkältet gefühlt und sich von ihr hinweggesehnt hatte, wäre er jetzt gern immer bei ihr geblieben, so daß nun sie ihn drängen mußte, sie zu verlassen, wenn der Morgen nicht mehr fern war.

Außer dem Liebesglücke, das sie in reichem Maße genossen, beschäftigte sie vorzugsweise die Zukunft, von der sie sich noch weit mehr versprachen und welche die Jungfrau in reizenden Farben schilderte.

„Gewiß hast Du darauf geachtet,“ sagte sie, „daß in dem Maße, wie ich selbst wärmer werde, auf den Bergen, deren Herrin und Vertreterin ich bin, das Eis und der Schnee schmelzen und das Land mit neuem Grün sich zu bekleiden beginnt. Nur eine kurze Zeit noch, und das Ziel ist erreicht, mein sehnlichster Wunsch erfüllt. Dann werden alle Schneefelder und Gletscher für immerdar verschwinden, die starren kahlen Höhen einsinken, die tiefen Abgründe ausfüllen und sich mit fruchtbarer Erde bedecken. Grüne Matten, saftige Wiesen und schattige Wälder werden sich erstrecken weit und breit, fleißige Menschen sich ansiedeln und den jungfräulichen Boden bebauen, neue Dörfer, umgeben von einem Kranz von Gärten, entstehen und Kinder da spielen, wo jetzt nur scheue Gemsen weiden. Statt des Lawinendonners wird Glockenklang von neuen Kirchen ertönen und unter zufriedenen glücklichen Bewohnern werden wir, denen man alles das verdankt, die glücklichsten sein. Zwar werde ich dann sterblich werden, wie Du, aber ich werde es mit Freuden, denn nur die Sterblichen kennen das „Glück“, weil sie dem Wechsel unterworfen sind und statt des Wissens ihnen die Hoffnung gegeben ist. Was in ewiger Gleichmäßigkeit währt, kann kein Glück genannt werden. Und“ – dabei

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jnngfrau
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_318.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)