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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Dr. von Daniels ist ein parlamentarischer Philosoph langweiligster Art; er spricht, als hätte er Bonbons im Munde. Sehen Sie ihn, diesen kleinen, kugelrunden Mann mit dem Bonbongesicht? Er will eben die Tribüne besteigen … Gehen wir! Denn hören wir den Herrn lange an, so ist zu fürchten, daß uns übel und schlimm vor lauter genossener Süßigkeit wird.

S.-W.





Ein westphälischer Dichter.

Fünf Stunden von der alten ehrwürdigen Bischofsstadt Münster, eine Stunde von dem freundlichen Warendorf, liegt das weitausgestreute Dorf Sassenberg. Die einzelnen Gehöfte strecken sich behaglich nebeneinander; die alten und doch solid erbauten Häuser, umgeben von reinlichen Höfen und kunstlosen Gärten, zeugen von dem Grundzug des nordwestphälischen Charakters, der zäh und mit Liebe am Alten hängt, kräftig und fest sich in allen Aeußerungen giebt. Weite Haiden, und sandige Steppen dehnen sich ringsum aus; hier und da steht einsam ein Baum. Gelb säumt der Ginsterstrauch die braune Scholle; fernab zieht sich die bewaldete Hügelkette, in dunkle Bläue getaucht. Alle Natur mahnt an düstre Elegie; die schwere Ruhe der Landschaft drängt alle Gefühle des Menschen in sein Innerstes zurück, erfüllt das Herz mit stillem Weh und sanfter Lust.

Hier, inmitten des westphälischen Haidelandes, etwas abseits von den Gehöften des Dorfes, liegt das kleine Schlößchen Sassenberg. Die grüne Parkoase, in die es gebettet ist, stimmt wunderbar in ihrer elegischen Färbung mit der ganzen Umgebung. Man merkt, Park und Schloß sind aus diesem heimischen Boden emporgewachsen, nicht durch Laune darauf geklebt. Die Goldgluth der weit hinten am Horizont untersinkenden Sonne wirft eine rothe Feuerpracht auf die Scheiben, durchbrochen vom Schatten alter, hoher Platanen, die den großen stillen Hof dunkeln. Ueber ein Jahrhundert alt muß Bau und Anlage sein – ein Herrenhaus von Vater auf Sohn vererbt. Die Steine sprechen auch. Die Simse, die geschwungenen Linien an der Front des Hauses im Rococostyl, die hohen Essen, welche über das große Dach emporragen: das ist ein Bau aus alter guter Zeit. Und überall ist dieser Charakter wiederzufinden; nirgends hat moderne, leichte Zierlichkeit den gediegenen Grundzug der Anlage störend überwuchert. Der weite Garten um das Schloß zeigt noch die Blumenparterres auf, welche im vorigen Jahrhundert angelegt wurden; alter, kräftiger Buchsbaum umzäunt die regelrechten Beete; hier stehen alte Sandsteinfiguren, dort sind Sonnenuhren als Schmuck; hinter dem Garten dehnt sich ein duftiger Wald in die Haide hinein.

Und im Innern des Hauses stimmt das Meiste der Einrichtung damit zusammen. Da sind breite, luftige Stiegen, große Thüren, weite Zimmer mit Gesims und schwerem Fries. Ueberall noch die Kamine der alten Zeit; an den Wänden große, gedunkelte Fürstenbilder, Bischöfe von Münster, Familienportraits. So ist es noch immer ein Haus der Patrizierzeit des geistlichen Fürstenthums Münster, welches durch die Napoleonischen Stürme zerstückt und in einzelnen abgerissenen Theilen anderen Staaten einverleibt wurde. Hier hat sonst eines der ersten Geschlechter des Landes residirt, und das jetzt kleine, zerzauste Gut war groß und reich, eine stattliche Herrschaft. Es waren die Schücking’s, deren Vorfahren als Schucking, Scukking und Scukke bis in’s 10. Jahrhundert ragen, ein ritterbürtiges Geschlecht, welches in einer Linie von Kaiser Franz I. 1757 auch in den Reichsadelstand erhoben wurde und viele als Geistliche, Diplomaten und Gelehrte im Münsterschen Lande hervorragende Männer geliefert hat.

Jetzt wohnt auf Sassenberg der Nachkomme dieses Geschlechts, Christoph Bernhard Levin Anton Matthias Schücking, weitbekannt als einer der sinnigsten deutschen Dichter, als einer der liebenswürdigsten Erzähler. In dieser einsamen Stille inmitten westphälischer Landschaftselegie spinnt eine zartbesaitete Natur rastlos kunstvolle Gewebe aus den Stoffen der heimischen Geschichte, der Gegenwart, der versunkenen Zeiten. Die Liebe zum Heimathsland der „rothen Erde“ nährt die Seele des Dichters; ein echtes, lauteres, positives Nationalgefühl, ein Patriotismus urwüchsiger Volkskraft, das Erfassen großer socialer und geschichtlicher Begebenheiten in ihrem eigentlichen Wesen giebt all den Erzählungen Levin Schücking’s, wiewohl sie durchaus nur Dinge der Wirklichkeit behandeln, eine höhere Bedeutung, eine weitere sittliche Wirkung. Es soll das hohe Ziel eines Romandichters bilden, in erzählender, anmuthiger Form ein Lehrer des Volks zu sein; Schücking ist einer der Wenigen, welche es erreicht haben. Und gerade seine echt westphälische Natur kommt ihm hierbei zu Gute. Er hat die Liebe zum Gegenwärtigen aus der Anhänglichkeit für das Alte gesogen; er hat die stille, behagliche Poesie, die Leidenschaftslosigkeit, die sittliche Strenge, die Schlichtheit und Einfachheit seines Stammes und doch auch jene tiefe Innerlichkeit, welche die Herzen erwärmt, und jenen echten Humor, welcher mehr als alle Dialektik den Verstand gewinnt und die Ueberzeugung der Wahrheit aufruft. Westphalen mit seinen Haidesteppen und dem schweren Geblüt seiner Kinder ist sonst keine Wiege für Dichter und Künstler, welche in sonniger Heiterkeit so üppig gedeihen. Aus dem kleinen Lippeschen Ländchen sind zwar zwei echte Dichternaturen, Freiligrath und Grabbe, hervorgegangen; im Uebrigen aber ist der Name Levin Schücking’s der einzige, den Westphalen der modernen Literatur zugeführt hat, neben dem der stolz-einsamen, träumerischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

Levin Schücking wurde am 6. September 1814 im nördlichsten Westphalen, zu Clemenswerth, geboren. Clemenswerth, bei Meppen, ist ein Lust-und Jagdschloß der ehemaligen Fürstbischöfe des Landes, auf dem der Vater als herzogl. Arembergischer Amtmann die Residenz seines Jurisdictionsbezirks aufgeschlagen hatte. Sein Alter beschloß der Vater in Bremen, wo er still, wie so viele der Schücking’s, den Wissenschaften lebte und auch manche historische wie theologische Schriften, meist Pseudonym, erscheinen ließ. Die Mutter Levin’s starb früh, schon 1831. Sie war zu ihrer Zeit eine viel gefeierte sinnige Dichterin, deren Jugenderinnerungen in die Zeiten des berühmten Ministers Fürstenberg fielen und die als Mädchen in den geistig angeregten Kreisen verkehrte, welche der Einfluß der Fürstin Gallitzin, Hamann’s, Stollberg’s und seiner Genossenschaft – Jacobi, Claudius, Perthes etc. – belebte und welche Münster in jener Zeit zu einer norddeutschen Republik der Geister machten, ähnlich, wie kurz zuvor Weimar und Jena, dann Berlin es waren. Der Einfluß dieser Mutter mußte natürlich früh Levin’s Geistesanlagen und den künstlerischen Schaffenstrieb wecken, um so mehr, als nach dem Tode derselben eine Natur, wie die Annette’s von Droste, eine Freundin der Schücking’schen Familie, sich des Jünglings mütterlich annahm.

Im Jahre 1830 – 16 Jahr alt – kam Levin auf das Gymnasium zu Münster und lernte zuerst Annette von Droste-Hülshoff kennen. In seiner trefflichen, vor Kurzem (bei Rümpler) erschienenen Charakteristik dieser eigenthümlichen Dichterin erzählt er die näheren Umstände dieser ersten Begegnung. Die Droste, eine zarte, elfenartige Gestalt mit breiter, hoher Stirn, blauen Augen, blonden Haaren, wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf ihrem Edelsitz Ruschhaus, welcher ganz den bäuerlichen Typus besaß, den sich die westphälischen Herrenschlösser meist alle erhalten haben. Hier hauste die Annette, erzählte den Bauern Geschichten, suchte Steine und Pflanzen, dichtete; hier verlebte später Levin mit ihr lange Stunden im Disput, im Austausch der Gedanken, in Dichterharmonie.

Nach dem weiteren Besuch des Gymnasiums zu Osnabrück bezog Schücking 1833 die Hochschule zu München, um die Rechte zu studiren und beendete seine akademische Laufbahn in Heidelberg und Göttingen. Im Jahre 1837 kam er nach Münster zurück – ein fertiger Jurist, dem nur noch die Amtscarriere fehlte. Aber allerlei Umstände traten jetzt hinzu, um den aufgestellten Lebensplan zu durchkreuzen. Dank den deutschen Zuständen, hatte Levin mehrere Vaterländer, ohne ein einziges richtiges zu haben. Der Münsterländer war preußisch geworden, aber die preußische Regierung wollte ihn als „Ausländer“ nicht in den Tempel der Themis aufnehmen. Für Hannover mochte sich der junge Jurist angesichts des Göttinger Professorenexils auch nicht entscheiden – so quittirte er denn die Juristerei gänzlich, um so lieber, als sein Bündniß mit ihr „nie über die Grenzen einer gewissen kühlen Hochachtung hinausgegangen war, wie bei jungen Leuten, die man zu früh miteinander verlobt hat.“ (Annette von Droste. Ein Lebensbild von L. Schücking. S. 105.)

Seine mütterliche Freundin von Droste billigte zwar nicht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_315.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)