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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ob Wien seinem früheren strengen Polizei-Regime die gute Mannszucht der unteren Volksclassen dankt, ob dies allein in der Gutmüthigkeit derselben liegt, vermag ich nicht zu beurtheilen, wenn ich gleich Grund habe, das Letztere anzunehmen. Allein nicht nur der „gemeine Mann“, wie er in Wien genannt wird, vermag sich dem tollsten und doch liebenswürdigsten Uebermuth hinzugeben, auch die gebildetsten und geistreichsten Menschen sind dessen fähig. Welch’ eine Unzahl von drastischen Anekdoten haben in dieser Beziehung Bäuerle, Castelli, Saphir, Korntheuer, Deinhardstein und die übrigen Humoristen des alten Wiens hinterlassen! Freilich waren es eben nur Späße, denen eine gewisse kecke Derbheit und Rücksichtslosigkeit anklebte, eigentlichen Witz hatte unter den genannten wohl nur Saphir, dessen Calembours sich mit den besten französischen messen konnten. Z. B. sagte er nach dem Tode eines unbeliebten Feldmarschalls, der aber mit großem Gepränge begraben wurde, dem Befehlshaber der österreichischen Truppen sei nach seinem Tode etwas gelungen, was er während seines Lebens nie zu Stande gebracht, „er habe die Armee in Flor gebracht.“ Einst begegnete er dem Regisseur des k. Hoftheaters, der ihm in größter Eile mittheilte, daß wegen Erkrankung des Herrn Anschütz die größte Repertoirverlegenheit herrsche, und man noch nicht wisse, was Abends gegeben würde. „Da ist leicht abzuhelfen,“ sagte Saphir, „gebt zwei Pausen von Costenoble und ein kleines Stück dazu, so seid Ihr fertig.“ Costenoble war ein sehr beliebter, aber seiner unendlichen Kunstpausen wegen bekannter Schauspieler. Einst fuhr Saphir mit Pokorny von Wien nach Preßburg. An der Grenze bat ihn Pokorny, ihm zu erlauben, seinen Namen anzunehmen, da er seinen Paß vergessen habe und als Theaterdirector sich keinen Unannehmlichkeiten aussetzen wolle. „Sie können ja,“ meinte er zu Saphir, „den Namen des nächstbesten Bekannten als den Ihrigen nennen, wir drücken den Beamten einen Gulden in die Hand, und die Sache ist in Ordnung.“ Er setzte hinzu, er wünsche überhaupt nicht, daß man in Wien erführe, er sei ohne Paß über die Grenze gegangen, was damals von der Polizei sehr unangenehm bemerkt wurde. Saphir gab Pokorny seinen Passirschein, und der Letztere antwortete an der Grenze auf die Frage um Stand und Namen:

„Ich bin der Schriftsteller Saphir aus Wien.“

„Und ich,“ fiel Saphir dem erstarrten Pokorny in’s Wort, indem er dem Aufseher den bekannten Gulden in die Hand drückte, „ich bin der Theaterdirector Pokorny aus Wien, habe aber keinen Paß bei mir.“

„Aber was treiben Sie denn?“ rief ärgerlich Pokorny, „ich will ja incognito bleiben.“

„Ich auch,“ entgegnete ganz trocken Saphir.

So gerne aber Saphir rechts und links Hiebe austheilte, so unangenehm war es ihm, wenn er selbst einmal solche einstecken mußte. Während seines Aufenthaltes in Pesth war ein Schauspieler Namens Melchior das stete Stichblatt seines Witzes. In der Posse „Die falsche Catalani“ rächte sich der gekränkte Histrione dadurch, daß er in der Rolle des Zeitungsschreibers Pfiffspitz in sprechend ähnlicher Maske Saphir copirte, der in einer Loge des ersten Ranges unter den Zuschauern sich befand. Das Haus erdröhnte vor Jubel, als der Doppelgänger des bekannten scharfen Kritikers auf der Bühne erschien. Der Beifall wurde immer lebhafter, je sichtlicher sich Saphir darüber ärgerte. Nach dem Schlusse des ersten Actes begab er sich zum Polizeidirector in die Loge und bat dringend, es möge dem Schauspieler Melchior verboten werden, ihn ferner auf der Bühne zu persifliren. Der Chef der öffentlichen Sicherheit machte ihm begreiflich, daß dies heute nicht mehr anginge, versprach ihm durch Bestrafung des Künstlers volle Genugthuung und gab Saphir den Rath, da die Aehnlichkeit hauptsächlich durch einen hellen gelblichen Rock hervorgerufen würde, in dem er allgemein bekannt sei, während des Zwischenakts nach Hause zu fahren, diesen abzulegen und in einem dunklen Kleide zu erscheinen. Während Saphir diesen Rath befolgte und sich in einen blauen Frack stürzte, das einzige Kleidungsstück, welches er damals außer dem hellen Rock sein eigen nannte, ließ der Polizeidirector dem Melchior untersagen, im zweiten Act wieder in dem auffallend gelblichen Rock auf der Bühne zu erscheinen. Allein man denke sich das vor Beifallsjubel erdröhnende Haus, als durch einen tückischen Zufall oder berechnete Malice Saphir in seinem blauen Frack recht ostensible in den Vordergrund der Loge trat und einige Minuten darauf Saphir-Melchior auf der Bühne ebenfalls im blauen Frack erschien!

Eine ganz entgegengesetzte Natur als der verbissene Saphir war der alte Bäuerle. Von unbegrenzter Gutmüthigkeit und ebenfalls mit der Cardinaltugend der Wiener, einer wahrhaft orientalischen Gastfreundschaft behaftet, war Bäuerle, trotz seines enormen Einkommens, ebenfalls stets in chronischer Geldverlegenheit. Die Theaterzeitung, die er 25 Jahre lang mit großem Geschick und im Geschmack des leichtbeweglichen Wiener Völkchens redigirte, war damals, so unglaublich dies heutzutage von einem Theaterblatt klingen mag, eine Macht, wurde von aller Welt, im Palast wie in der Hütte gelesen, und brachte per fas dem Eigenthümer eine ganz ansehnliche Summe ein, ohne des nefas zu gedenken, welches die Sehnsucht aller dramatischen Künstler, in der Theaterzeitung recht von Herzen gelobt zu werden, in den Säckel des in diesem Punkte sehr zugänglichen Bäuerle zauberte. Derselbe war eine der bekanntesten und beliebtesten Persönlichkeiten von Wien, nicht nur als Herausgeber der vielgelesensten Zeitung, als Vater der eigentlichen Localposse und Schöpfer des Staberl, sondern hauptsächlich als prächtiger Gesellschafter, als Erfinder und Verbreiter einer zahllosen Menge von Schwanken, als lebendiges Lexikon von Anekdoten, die er mit hinreißender Laune zu erzählen wußte. Und doch starb der Mann, der mit allen Fasern seines Ich’s in seinem theueren Wien wurzelte, fern von seinem Vaterlande, in Basel, wohin ihn seine Gläubiger zur Flucht gezwungen hatten. Allein und von aller Welt verlassen, überfiel den alten Mann im fernen Land Noth, Entbehrung und Siechthum; das Jahr 1848, welches in Oesterreich das alte verrottete Zeitungsmonopol aus den Händen der paar Personen riß, die mit demselben beglückt waren, und neue Concurrenzjournale in Unmassen auftauchen ließ, hatte auch den guten Bäuerle vom Throne der österreichischen Bühnenherrschaft gestoßen und in’s Exil getrieben. Friede seiner Asche! –

Glücklicher als sein Humorverwandter College starb jüngst in hohem Alter der wackere Dichter I. F. Castelli, geehrt, geachtet, wohlhabend und beliebt bei Alt und Jung, in den günstigsten Verhältnissen. Castelli war der eigentliche Erfinder vom „Wiener Jux“, eine Species von Scherz, die recht eigentlich der Metropole an der Donau angehört. Was die keckste Laune eben eingab, das wurde sofort in Scene gesetzt und ausgeführt, selbst auf die Gefahr hin, eines zu tollen Spaßes wegen mit der Behörde in Conflict zu kommen. Als Adjutant des Jux-Generals Castelli fungirte damals Deinhardstein, der aber seine Laune nicht, wie sein Vorbild, bis in’s höchste Greisenalter bewahrte. Castelli war bis an sein Ende Vorsteher einer Gesellschaft von Künstlern, Schriftstellern etc. „die grüne Insel“, die berühmt wegen ihrer tollen Streiche war. Aber folgen wir heute den lustigen Brüdern in den k. Redoutensaal und belauschen wir deren Treiben während eines Maskenballes.

Dort steht ein junger, schüchterner Mensch, ängstlich in einen Winkel gedrückt und sich offenbar in dem rauschenden bunten Gewühle nicht heimisch fühlend. Castelli geht rasch auf ihn zu und fragt entschieden:

„Sie haben ein Freibillet auf diesen Ball?“

Der fremde Jüngling sieht ihn erstaunt an und murmelt ein leises „Ja.“

„Nun also, warum tanzen Sie nicht?“

„Ich kann nicht tanzen.“

„Das fehlte noch! wenn man ein Freibillet hat, so muß man tanzen, und zwar die ganze Nacht. Das ist eine heilige Verpflichtung! Ich bin Ballcommissär und habe das Recht darauf zu sehen, daß die Ordnung aufrecht erhalten wird. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?“

„Ich bin Kürschnergeselle und heiße Weiß.“

„Also, Herr Weiß, fordern Sie eine Dame auf und tanzen Sie.“

„Sehr wohl, Herr Commissär.“

Er tritt mit einer Dame, die er um einen Tanz bittet, in die Reihen, bleibt aber auch sofort stecken. Die Tänzerin blickt ihn erstaunt an und ruft: „Ja, was ist denn das, Sie können ja nicht tanzen?“

„Ich muß tanzen, ich habe ein Freibillet.“

„Was kümmert denn das mich?“

Und mit einer hingemurmelten, eben nicht sehr schmeichelhaften Bezeichnung läßt die Maske den verblüfften Kürschnergesellen stehen, der sich leise in die entgegengesetzte Ecke des Saales verkrümelt, doch sofort von seinem Freibilletcontroleur aufgefunden wird.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_298.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)