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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 19.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zweimal gelebt.

Einer wahren Begebenheit nacherzählt
von Günther von Freiberg.
Motto: „Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen
Wärst Du selbst mir aus dem Grab gesandt!“
(Goethe, Braut von Korinth.)
1.

Die nordische Novembernacht erreicht ihren Höhepunkt von Unheimlichkeit, Frost und Nässe in London, wo der weltbekannte Nebel sich wie ein großes Leichentuch über Strom und Straßen breitet. Die Themsestadt im Spätherbst, nach Mitternacht, gewinnt ein förmlich gespensterhaftes Ansehen. Sobald die gasstrahlenden Magazine geschlossen, verwandelt sich die Residenz in den vollständigen Schauplatz jener haarsträubenden Gauner- und Mordgeschichten, in denen Jack Sheppard’s „Nebelritter“ eine so wichtige Rolle spielen. Besonders ist gewissen Stadtvierteln eine so schauerliche Stille, eine so trostlose Oede eigen, daß der vereinzelte Nachtschwärmer sich eines unwillkürlichen Grauens nicht erwehren kann, muß er sie in später Stunde passiren: kein erleuchtetes Fenster weit und breit; hier und da, in großen Entfernungen, schimmern bleiche Laternen spärlich durch die bleigraue Atmosphäre; der Pfiff des Wächters tönt nicht bis dahin; kein Wagen rollt vorüber – nur die dumpfen Schläge einer Thurmuhr unterbrechen mit geisterhaftem Dröhnen die Todtenstille, nur auf den hohen Dächern seufzen die alten Wetterfahnen gar kläglich im Winde. „Das ist die wahre Spukezeit der Nacht,“ sagt der Engländer mit Hamlet, hüllt sich fröstelnd in den naßbestäubten Mantel, umschließt kräftiger den bleigefüllten Knopf des Stockes und eilt mit seinen „langen Hacken“ so schnell als möglich eine belebtere Gegend zu erreichen.

Solch eine öde und traurige Straße ist die Bond-Street. Obgleich zahlreich bewohnt, herrscht doch auf ihren Wegen und Stegen eine auffallende Oede, die, je später es wird, um so mehr zunimmt. Gerade deshalb wird sie gern von Gelehrten und Aerzten bewohnt, die sich dort ungestört den Studien überlassen oder sich von ihnen ausruhen können, und dem Forscher, dem Nimmermüden, ist solch eine lange, klamme Novembernacht gerade willkommen, wo er bei der Lampe hinter dichtgeschlossenen Läden über sein Werk sinnt und brütet.

Einer dieser rastlos Thätigen wachte um zwei Uhr gegen Morgen in einem zweistöckigen Hause der obengenannten Straße. Es war ein warmes, trauliches Gemach, vom gedämpften Schein der Arbeitslampe erhellt; auf grünseidner Tapete hingen werthvolle, alte Oelgemälde in geschnitzten Rahmen aus Ebenholz; längs den Wänden liefen Bücherbreter, die Tausende von schweren Bänden enthielten; aus den dunkelüberzogenen Möbeln, über den moosfarbenen Teppich gestreut, lagen Manuscripte, einzelne Hefte von Zeitschriften und Broschüren. Da war im ganzen Zimmer kein trivialer Gegenstand, wie Nippes und dergleichen, zu sehen; jedes Einzelne gediegen, von einem gebildeten Geschmack geprüft. Dennoch fehlte jene Anmuth, welche die Nähe eines weiblichen Wesens verräth; Alles war zu dunkel, zu ernst, wie gewöhnlich in Wohnungen, wo Männer allein haushalten. Besonders ließ das Menschengerippe neben dem Schreibtisch darauf schließen, daß der Eigenthümer des Studirzimmers unumschränkter Herr in seinen Räumen sei, denn ohne Zweifel hätte das schöne Geschlecht sich gegen die Anwesenheit des Skelets aufgelehnt. Vielleicht auch gegen die wilde Unordnung, mit welcher chirurgische Instrumente, Phiolen, kleinere und größere Schädel auf den Tischen und Stühlen umherlagen.

Aber ein ordnungsliebendes Weib gab es nun einmal im ganzen Hause nicht, denn der schöne, blasse Mann im schwarzsammetnen Hausrock, der dem Gerippe gegenüber saß, war unverheirathet bis an sein achtunddreißigstes Jahr gekommen. Wie so viele berühmte Männer hatte er, der erste Anatom Londons – dessen Vorlesungen und vielfältige Schriften die höchste Anerkennung genossen – zur Liebe keine Zeit, vollends zum Heirathen keine Neigung gehabt. Seine Feuerphantasie, seine kühnen Ansprüche hatten ihn niemals finden lassen, wovon er in seinen Mußestunden träumte.

In Studien vertieft, führte er, unberührt von der Gesellschaft, sein anstrengendes Leben, wie sehr man es auch bedauerte, daß Oliver bei seinem interessanten Aeußern, dem bedeutenden Vermögen, das sich täglich vergrößerte, so wenig mit der Welt verkehrte. Aber selbst in dieser Zurückgezogenheit übte er einen entschiedenen Zauber auf die Londoner; man erzählte sich, manchen großmüthigen, genialen Zug von ihm; er imponirte den Männern durch seine Kenntnisse, und die Frauen verehrten ihn wie einen „wunderthätigen Magus“.

In jener Nacht schienen Oliver’s Gedanken nicht so ausschließlich wie sonst bei seinen Manuscripten – deren er eins corrigirte – zu verweilen; vielmehr fuhr er öfters hastig von der Arbeit auf, blickte zerstreut nach der Thür, legte die Feder aus der Hand und neigte horchend den Kopf. Hatte er während einiger Secunden gelauscht, so zog er seine Uhr und behielt sie beim Weiterschreiben in der Hand.

Endlich erhob er sich und ging mit untergeschlagenen Armen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_289.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)