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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Für diejenigen, welche die Pässe besetzt hielten, gab’s nun ein wohl an zwei Stunden dauerndes, lautloses Warten, während dessen wir die herrlichste Gelegenheit hatten, das prachtvolle Schauspiel der aufgehenden Sonne auf dem Gebirge zu beobachten. Noch lagen die Tannenwälder um uns fast nächtlich schwarz da, und nur über das Grün der höhern Alpweiden zuckte es dann und wann in blaßgelben Streifen hin und her, oder funkelte Leuchtwürmchen gleich auf den obersten Wipfeln der Wettertannen. Gegen Süden aber, da schimmerten die riesigen Kuppen der Glarner und Bündner Alpen wie in Rosengluth getauchtes Silber ins weite Land hinein, und mählich und mählich schienen sich blitzende, goldene Ströme wie Lavabäche nieder zu ergießen von den Flanken der strahlenden Häupter des Hochgebirgs in die noch vor wenigen Secunden in nebelige Schleier gehüllte weite Landschaft zu unseren Füßen, um die funkelnden Lichtwellen an alle Abhänge hinzuspritzen. Dazu tönte wie ein Morgenpsalm der Natur das feine Läuten der Heerdenglocken, hie und da durchbrochen von einem schmetternden, langathmigen Jauchzer der Sennen. Wahrhaftig, ich hatte ob dem Anblick ganz meine mordlustigen Gedanken vergessen. Da knallt plötzlich der Schuß meines Nebenmannes, und wie ich aufblicke, kommen windschnell zwei Gemsen die enge Schlucht daher gerannt, als deren einer Wächter ich bestellt war; auch ich reiße meine Büchse an die Wange und schieße. Beide Schüsse haben aber kein anderes Resultat, als daß die zierlichen Antilopen des Gebirgs so schnell wie unsere Kugeln aus dem Rohr an uns vorbeifliegen. Wie ich nun so recht verblüfft den Fleck anstarre, wohin ich meinen Schuß gerichtet, was steht da vor mir? – Eine ganz junge Gemse, und schaut mich in einer Entfernung von kaum sechs Schritten mit ihren schönen, klugen Gazellenaugen fast eben so verblüfft wie ich, aber anscheinend ganz furchtlos an. In meinem Leben mag ich wohl nie so einfältig ausgesehen haben! Laute Zurufe, doch wieder zu laden und das zierliche Thierchen zu erlegen, erweckten mich freilich zum Handeln, aber meine Hand zitterte so vor Aufregung, daß ich kaum den Ladestock in den Lauf bringen konnte. Endlich gelang’s, und eben wie ich die Büchse zum Anschlagen erhebe, da wird’s doch dem Neuling bedenklich, und in zwei Sätzen ist er verschwunden, als hätt’ ihn der Erdboden verschluckt. Ich hatte buchstäblich nicht einmal das Nachsehen. „Paßt auf! paßt auf! ’s kommt noch eine!“ brüllte im gleichen Moment oben über mir die Stimme der Sennen von der Hüttenalp; ’s war aber nicht gerade nöthig, daß ich mich nochmals mit einem Fehlschluß blamirte; links neben mir kracht prächtig und weit durch das Gebirge hinhallend wieder ein Schuß, und ein riesiger Gemsbock von siebzig Pfund purzelt auf eine Schneewiese vor die Füße der glücklichen Schützen hin. War das aber auch ein Halloh mit Triumphgeschrei, in das selbst die Sennen der Alp jauchzend mit einstimmten! Meine, es brausen mir noch jetzt die Ohren davon. ’s war aber auch schon der Mühe werth, denn das erlegte Thier war eine unter dem Namen Lafeyrer Bock schon lange berühmte Persönlichkeit, die Jahre lang aller Listen der Jäger gespottet hatte.

Fort ging’s mit dem alten schlauen Burschen zur Sennhütte, wo er sich’s schon gefallen lassen mußte, ausgeweidet und dafür mit feinen, wohlriechenden Alpenkräutern ausgestopft zu werden. Die Leber wurde sofort in Butter gebacken und gab bei unserem erregten Appetite ein ganz delicates Gabelfrühstück. Mitten beim Mahle entdeckte ein durch’s Fernrohr spähender Jäger ein Rudel von mindestens 16 Gemsen, die ganz gemüthlich grasend bergan der Klus bei Mugelis-Alp zuwandern. „Aufgebrochen!“ hieß es von allen Seiten, und den Sennen den Rest unserer Mahlzeit überlassend, ging’s mit verdoppeltem Eifer wieder bergan. Nach zwei Stunden angestrengten Steigens fanden wir auch ganz richtig die Klus, und nur die Hauptsache fehlte, die Gemsen nämlich! Dessenungeachtet zogen wir aber Abends mit Freudenschüssen und bei Fackelschein mit unserer Beute im Weißbad ein, und wurde ich auch bei dem fröhlichen Zechen, das folgte, wegen meines ausgezeichneten Kernschusses tüchtig gehänselt, so habe ich doch den Tag als einen der frohesten meines Lebens in meinem Kalender roth angestrichen.“

So unser Vergnügungsjäger. Das ist aber, wie bereits bemerkt, die von der Einzeljagd weit verschiedene Treibjagd. Wohl ist auch diese nicht immer ohne Gefahr. So ging vor wenigen Jahren ein im schönen Hotel Bellevue zu Thun logirender Engländer in Gesellschaft mit Andern auf die Gemsjagd in das nicht weit von da entfernte Kienthal. Einen steilen Abhang hinaufkletternd, glitt er aus und rollte hinunter, seine Büchse entlud sich ob des Sturzes, und die Kugel durchdrang den Körper des unglücklichen Briten. Abenteuer, wie das haarsträubende des Rudolph Bläsi von Schwanden, der in Verfolgung einer angeschossenen Gemse sich durch seinen Eifer verleiten ließ, auf ein schmales, kaum für die Breite seines Fußes ausreichendes Felsenband hinunter zu springen, und dann die grausige Entdeckung machte, daß er hinter sich die glatte, senkrechte Felsenwand, vor sich einen unermeßlich tiefen Abgrund habe, in welchen hinunter auch die leiseste Bewegung ihn stürzen müsse, kommen indeß auf der Treibjagd wohl nicht vor. Mehr als der Umstand, daß Bläsi es fast zwei halbe Tage und eine Nacht zwischen Himmel und Erde hängend aushielt, bis sein Freund und Jagdgenosse Manuel Walcher ihn aus der entsetzlichen Situation erlöste, mag den Leser in Erstaunen setzen, daß der unverwüstliche Jäger, trotzdem, daß vor Entsetzen[WS 1] seine Haare in der Schreckensnacht silberweiß geworden waren, später weit davon entfernt war, sein gefährliches Handwerk aufzugeben; und wir citiren diesen weithin bekannt gewordenen Vorfall nur als einen Beleg, wie tief die Jagdleidenschaft in den hartnäckigen Söhnen des Gebirges festsitzt.

Die berühmtesten Gemsjäger der Jetztzeit sind Johann Rüdi von Pontresina, Karl Joseph Infenger von Isenthal im Canton Uri, Benedict Cathomen aus Bünden und Ignaz Troger von Ober-Emo im Wallis. Aber obschon diese Herren nebst vielen anderen ein jeder schon viele Hunderte von Gemsen erlegt haben, so ist deswegen keineswegs zu fürchten, daß die schönen Gratthiere dort am Ende gar ausgerottet werden möchten. Die flüchtige Antilope des Gebirges ist zu schnellfüßig und zu schlau, und die zahllosen undurchdringlichen Gebirgslabyrinthe der Gletscherwildniß bieten ihr der Schlupfwinkel zu viele, wo der schlaueste und verwegenste Jäger ihr nicht zu folgen vermag. Zudem steht der Preis, den sich der Jäger im Glücksfall erringt, in keinem Verhältnisse zu den Gefahren, die den Jäger auf seinen Streifereien Schritt vor Schritt umlauern. Die Zahl der guten Gemsjäger hat denn auch eher ab- als zugenommen, während tüchtige Beobachter in den letzten Jahren unzweifelhaft eine Vermehrung des Wildstandes bemerkt haben wollen.

A. Bitter.


Das Haberfeldtreiben.

Im baierischen Alpengebirge besteht seit vielen Jahrhunderten ein Geheimbund, welcher es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vergehen, die außerhalb des gerichtlichen und polizeilichen Strafrechtes liegen, öffentlich zu rügen, und zwar ohne Rücksicht auf Person, Stand, Amt und Würde. Wer sich in jener Gegend Handlungen erlaubt, die den Sittenbegriffen des Oberlandes entgegen stehen, namentlich aber wer durch Sünden in geschlechtlicher Beziehung viel Aergerniß giebt, der kann in der Regel eines Besuches von Seiten der Haberfeldtreiber vollkommen versichert sein. – Den Hauptsitz dieser geheimen Richter finden wir in den Landgerichtsbezirken Rosenheim, Aibling, Miesbach, Tölz und Tegernsee, also in der Gebirgsgegend zwischen dem Inn und der Isar, und ihr Wirken blieb auch bisher immer von diesen Flüssen begrenzt, ungeachtet sie schon weite Wanderungen in das Flachland hinaus machten und selbst die Landgerichtsbezirke Ebersberg und Wasserburg mehrmals berührten. Viele wollen – und vielleicht nicht ohne Grund – das Haberfeldtreiben als eine bäuerliche Fortsetzung der Rügegerichte, welche Karl der Große durch geistliche und weltliche Sendboten in manchen Grafschaften eingeführt hatte, betrachten; allein bei dem Mangel an geschichtlichen Quellen läßt sich diesfalls nichts Bestimmtes feststellen. Auch über den Grund der Benennung „Haberfeldtreiben“ herrschen viele und verschiedene Ansichten. Während Einige behaupten, es seien vor Zeiten Wucherer oder Beschädiger der Grenzmarken dadurch bestraft worden, daß man ihre Haberfelder verwüstete, suchen Andere die Erklärung des Wortes in der

ehemaligen Sitte, gefallene Mädchen nächtlicher Weile mit Ruthen

Anmerkungen (Wikisource)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_280.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)