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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Osterwieck, einem in mäßiger Entfernung nordwestlich von Halberstadt gelegenen Städtchen, dessen Sitz er aber 804 nach Halberstadt verlegte. Nachdem Ludwig der Fromme die Stiftung 814 bestätigt hatte, legte der erste Bischof Hildegrin den Grund zum Münster des heiligen Stephan, um den herum sich bald die Wohnungen der Geistlichen und Mönche erhoben, die von denen der andern Ansiedler durch burgähnliche Verschanzungen getrennt wurden. Unter den Wirren der nächsten Jahre gedieh das Werk nur langsam, sodaß die feierliche Einweihung erst am 9. November 859 von Statten ging. Doch der kaum vollendete Bau stürzte schon 965 zusammen. Bischof Hildeward legte den Grund zu einer neuen Domkirche, welche 991 in Gegenwart Kaisers Otto III., dieses unglücklichen Sachsensprößlings, eingeweiht wurde, der mit frevelnder Hand den Sarg des großen Karl öffnete und sein Leben so früh im fernen Süden beschloß. Aber auch dieser Bau sollte nicht lange dauern; in demselben Jahre 1060, in welchem Heinrich IV. mit seiner jugendlichen Gemahlin die ersten, vielleicht einzigen, glücklichen Tage seiner Ehe in Halberstadt verlebte, legte eine Feuersbrunst den größten Theil der aufblühenden Stadt und die Domkirche selbst in Asche. Der Bischof Burchardt II., Buko genannt, derselbe, den das uns aus früher Kindheit bekannte liebe Wiegenlied bittet: „Buköken von Halberstadt, bring doch unserm Kindchen wat,“ betrieb den Neubau des Münsters so eifrig, daß er schon 1071 in Gegenwart des Kaisers eingeweiht werden konnte.

Der Dom zu Halberstadt in seiner Vollendung.

Ueber hundert Jahre hatte er gestanden, als Heinrich der Löwe, ergrimmt auf den kaiserfreundlichen Bischof Ulrich, 1179 die Stadt belagerte, eroberte und sammt dem Dome einäscherte. Die sinnige Sage erzählt, daß die düstern Rauchwolken sich von der heiligen Brandstätte dem übermüthigen Sieger nachwälzten, bis er, von Angst ermattet und in Furcht erschöpft, sich zu Boden warf und in herzzerreißendem Tone zu Gott aufrief: „Rock l’um“ (Rauch, kehr um). Da zogen die Wolken rückwärts, und der dankbare Herzog baute an derselben Stelle, wo noch jetzt das Dörfchen Rocklum steht, der heiligen Marie eine Capelle. Zum vierten Male erhob sich das Gotteshaus aus der Asche und wurde 1220 eingeweiht. Ganz zerstört wurde es seitdem wohl nicht wieder, obschon nothwendige Erweiterungen und theilweise Zerstörungen den ursprünglichen Plan vielfach veränderten; die letzte Hauptreparatur soll 1602 vorgenommen oder beendet worden sein. Inzwischen trugen die Wellen der Geschichte manche große und interessante Erscheinung herbei. Schon 1209 wurde Otto IV. von den versammelten deutschen Fürsten hier zum Kaiser erwählt; die folgenden Jahrhunderte waren reich an inneren und äußeren Kämpfen, in welchen die Macht der Bischöfe sich schwankend hob und senkte, und deren Brandungen bis an das Heiligthum des Gotteshauses schlugen. Nach langen religiösen Wirren ward der Dom 1591 auch den Protestanten geöffnet, und die Schüler des „bibelentfaltenden“ Luther predigten hier neben den Geistlichen der römischen Kirche. Im dreißigjährigen Kriege sah er, außer Gustav Adolph, in seinen Hallen fast alle Heldengestalten jener Zeit; von Tilly erzählt man, er sei in feierlicher Procession von der gegenüberliegenden Liebfrauenkirche nach dem Hochaltare des Domes gezogen, um noch einmal die Weihe des Himmels

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_277.jpg&oldid=- (Version vom 30.4.2020)