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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein Gelehrter, den ich lange auf seinen Reisen durch unsere Gebirge begleitet, ließ mich durch ein anderes Instrument sehen, das er bei sich hatte und ein Mikroskop nannte und durch das ich Dinge erblickte, die so klein waren, daß sie das beste Auge nicht erkennen konnte. Leider haben wir kein Instrument, das uns Wesen sichtbar macht, welche unsern Augen für gewöhnlich nicht erkennbar sind. Sie geben aber ihr Dasein bisweilen deutlich genug in anderer Art kund.“

„Beispiele solcher Art möchten wir eben von Ihnen erfahren, und wenn es möglich ist, zunächst eines, welches das Kußverbot in der Gletschergrotte erklären könnte.“

„Ich will versuchen, in wie weit ich Sie befriedigen kann,“ sagte der alte Mann, und nachdem er noch ein Glas Wein getrunken hatte, begann er:

„Dort drüben, wo der Gletscher von dem „Eismeere“ oben sich herunterzieht bis fast in das Thal herein, befand sich einst eine fruchtbare Matte mit dem saftigsten, schönsten Grün. Ein paar Häuschen standen da im Schutz des Wetterhorns, und große Nußbäume gaben ihnen Schatten. Das Haus, das am höchsten oben stand, gehörte einem jungen Manne, der Vater und Mutter verloren hatte und selten daheim war. Er hielt nicht eine Kuh auf der Matte, denn das stille, gleichförmige Leben des Hirten gefiel ihm nicht. Viel lieber wanderte er auf den Bergen umher, Gemsen zu jagen, Gefahren und Abenteuer zu bestehen und nie betretene Höhen zu erklimmen. Weil er einmal mit eigener Gefahr einen Adler erlegt hatte, hieß er der Adler-Fritz. So jung er noch war, unterschied er sich doch bereits von allen seinen Genossen. Er war klüger als sie, und während sie am liebsten zu Spiel und Tanz und allerlei Kraftübungen zusammen kamen, zeigte er sich fast nie bei solchen festlichen Gelegenheiten. Am liebsten war er allein. Darum betrachteten ihn auch Alle, Junge und Alte, mit einer gewissen Scheu, wenn auch die Männer seinen viel erprobten Muth und die Frauen und Mädchen seine kräftige, schöne Gestalt bewunderten und unter einander priesen. Jede Sennerin sah ihm mit zärtlichem Blicke nach, wenn er ruhig grüßend stolz an ihr vorüberschritt, und ihr Herz bangte angstvoll, wenn sie ihn an gefährlicher Stelle erblickte. Noch nie aber hatte man gehört, daß ihm eines der Mädchen vor andern gefallen, und keine konnte sich eines besonders freundlichen Blickes oder Grußes von ihm rühmen, außer etwa die Bäteli oben auf der Scheideck, mit der er manchmal einige Worte gewechselt, ja der er bisweilen ein Sträußchen der seltensten Alpenblumen, Enzian, Kaiserle und Edelweiß gegeben hatte. Sie war es freilich auch, die ihn am aufmerksamsten beobachtete und oft, wenn sie glaubte, daß er von einer Wanderung in ihrer Nähe vorüberkommen müsse, lange geduldig nach ihm ausschaute, allerdings so, daß er sie nicht bemerken konnte, und der dann das Herz gewaltig im Busen schlug, wenn er endlich wirklich kam und sie erkannte, daß er länger, als gerade nöthig war, nach ihrer Sennhütte hinschaute, als wünsche er sie zu erblicken. Worüber man am meisten und recht kopfschüttelnd sprach, war, daß er fast in allen Mondscheinnächten auf den Bergen und an den Gletschern umherwanderte. Was, fragte man, hat der Jäger in solchen Nächten draußen im Gebirge zu suchen und zu schaffen? Man wußte ja recht wohl, daß er nicht etwa wie andere Burschen in solchen Nächten ein geliebtes Mädchen, vielleicht in weiter Ferne, heimsuchte. Ein alter Vetter hatte ihn mehr als einmal wohlmeinend vor den Gefahren solcher nächtlichen Wanderungen gewarnt und ihm gesagt, daß, wie in Mondschein allerlei unheimliches Gewürm und anderes Nachtgethier aus seinen Schlupfwinkeln hervorkomme, auch andere Wesen, die das Tageslicht scheuten, sich hervorwagten, um Menschen zu verlocken und zu berücken. Der Jäger aber hatte anfänglich ungläubig gelacht und endlich erklärt, er sei kein Kind, das man mit Märchen schrecken könne, man möge ihn „seine Wege“ gehen lassen. Der Mondschein selbst und er allein sei es, der ihn hinausziehe unwiderstehlich, als legten sich die Strahlen wie Schlingen um ihn. Die Berge, die er über Alles liebe, erschienen ihm im Mondlichte viel tausendmal herrlicher und majestätischer als in dem nüchternen Sonnenscheine oder gar bei trübem Wetter. Wenn er die kahlen Felsenzacken, die grünen Matten und die weißen Gletscher vom Monde beglänzt vor sich sehe, fühle er in sich ein Etwas, das er zwar nicht verstehe, nicht beschreiben und ausdrücken könne, das ihm aber unsäglich wohlthue. – Der alte Vetter senkte schweigend sein graues Haupt, als fürchte er, solch abenteuerliches Treiben könne nimmermehr zu gutem Ende führen.

An einem Frühlingsabende – er hat es selbst erzählt – als spät am Tage ein heftiges Gewitter über Grindelwald hingezogen, das Echo der Donnerschläge unlängst erst verhallt, die Luft aber so weich, so lieblich wie vielleicht am ersten Schöpfungsmorgen, so erquicklich war, daß man sie wie einen süßen Trank in sich zog und die Brust verlangend sich ihr entgegendehnte, trat der Mond aus den zerrissenen Wolken hervor und breitete sein Licht – wie immer, bevor er über das Wetterhorn herüberschaut – gleich einem dünnen silberschimmernden Schleier über Berg und Thal. Es war andächtig still in dem großen Gotteshause der Natur; die jungen Blätter, die der Gewittersturm geschüttelt hatte, hielten sich, wie ermüdet, regungslos an den Bäumen und ließen nur von Zeit zu Zeit einen Tropfen fallen, gleich einer Thräne; kein Insect schwirrte oder zirpte; nur zahllose kleine Quellen, Bäche und Wasserfälle rieselten, murmelten, plätscherten und rauschten ihr einförmiges Lied. Es war eine Nacht voll Segen und Fruchtbarkeit, voll Duft wie von Weihrauch, eine Nacht, die auch Andere, als den Adler-Fritz, in ihren Zauber hätte hinauslocken können.

Der Jäger hatte in der That dem Reize nicht widerstehen können und sein Häuschen verlassen, sobald der erste Mondesschimmer sich gezeigt. Er war diesmal gerade hinaus gewandert die kurze Strecke nach dem Gletscher, dem Eismeere zu, wohin ihn sonst selten seine Schritte trugen. Obwohl er in der Ferne Lauinen fallen hörte, achtete er doch nicht auf den ihm längst vertrauten, eigenthümlich seltsamen Ton, sondern stieg weiter und weiter, an schwarzen Abgründen, an weißen Schneefeldern, an tiefgähnenden Eisspalten hin, auf deren Grunde die Wasser rauschten und die da, wo die Mondstrahlen sie trafen, wie riesige bläuliche Krystalle blitzten. Leichte weiße Wölkchen zogen um die Spitzen der Berge, als tanzten Nebelgestalten einen luftigen Reigen. Auf dem Eise der Gletscher selbst aber blitzte und leuchtete es oft plötzlich auf, bald hier, bald dort, als streue eine unsichtbare Hand Funken oder flimmernde Diamanten umher. Dem einsamen Wanderer kam es sogar bisweilen vor, als trippelten leichte Füßchen bald vor, bald hinter ihm, bald neckisch um ihn herum. Er wußte gewiß, daß er Aehnliches vorher nie gesehen oder gehört hatte. Darum richtete sich seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese seltsame Erscheinung; er strengte Aug’ und Ohr an, um zu sehen und zu hören, was Wunderbares um ihn her vorgehe; bald blieb er stehen, bald ging er weiter, ohne auf den Weg zu achten und ohne zu bemerken, daß er bereits auf das Eis des Gletschers selbst gelangt sei.

Etwa zwanzig Schritte vor ihm schien plötzlich eine weiße Gestalt aufzutauchen. Oder war es Nebel, der von dem Eise aufstieg? Nein, denn er erkannte an der Gestalt deutlich menschliche Formen, nur schienen sie von einem langen, weitfaltigen Gewande umhüllt zu sein, während es von dem Haupte blitzte wie durch einen Schleier ein Kranz von funkelnden Edelsteinen. Verwundert blieb Adler-Fritz stehen. Da hob die Gestalt den rechten Arm und machte damit eine winkende Bewegung. Er kannte keine Furcht, aber es war ihm doch, als hauche ihn eine kalte Luft an, und ein leichter Schauer rieselte ihm durch die Glieder. Als die Gestalt gleich darauf noch einmal winkte, ganz deutlich, ging der Jäger entschlossen, schneller schreitend, auf sie zu. Er kam ihr so nahe, daß er erkannte, es sei eine Frau oder Jungfrau, freilich eine, wie er ähnlich keine andere zuvor gesehen. Ein blendend weißes weites Gewand, das ein bläulicher Gürtel zusammenhielt, umgab sie, und von dem Haupte, an dem es funkelte wie von kleinen Sternen, fiel ein leichter langer Schleier. Er erkannte sogar ein bleiches Gesicht und leuchtende Augen darin, die ihn liebreich anblickten und ihm sagen zu wollen schienen: „komm und fürchte Dich nicht!“ Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, winkte die Gestalt noch einmal, dann drehte sie sich um und ging langsam, unhörbaren Trittes, weiter. Am Boden um sie her leuchtete und flimmerte es in der Art, wie er es bereits gesehen, nur glänzender und an zahllosen Stellen. Er wußte nicht, ob er folgen sollte oder nicht, und obgleich es ihn mächtig der Gestalt nachzog, wäre er doch vielleicht zurückgeblieben, wenn sie nicht noch einmal den Kopf nach ihm herumgewendet und ihn dabei mit einem Blicke angeschaut hätte, dem zu widerstehen ihm unmöglich war. Er wollte fragen, wer sie sei und wie sie in diese Eis- und

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