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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

unsere leicht herzustellende Untersuchungsmethode entscheidet sich hier auf die kürzeste Art, ob Jemand die Brücke der Gedankenverbindungen langsam überschreitet, oder ob er in kühnem Schwung sie überspringt. Hier ist das einfache Prüfungsmittel gefunden, mit dem Jedem bis auf ein Tausendtheil einer Secunde augenblicklich gesagt werden kann, wie schnell seine Zeit geht, – ob der schwerfällige Gang seiner Vorstellungen nur allmählich sich kleine Gebiete erobert, oder ob der leichte Flug seines Denkens in Momenten ihn eine Welt übersehen läßt …

Es ergiebt sich aus unsern Beobachtungen noch eine andere wichtige Thatsache. Schon Aristoteles hat sich die Frage ausgeworfen, ob wir zwei Dinge zugleich denken können. Aber er hat diese Frage nicht mit Sicherheit zu entscheiden vermocht, und so ist sie seit zweitausend Jahren schwebend geblieben. Hypothesen sind zwar in dieser Beziehung aufgestellt und auf die Hypothesen sogar Systeme gegründet worden, aber ein entscheidender Beweis für die eine oder für die andere Ansicht hat gefehlt. Dieser Beweis ist uns jetzt gelungen. Denn könnten wir uns zwei Dinge gleichzeitig vorstellen, so müßten wir auch im selben Moment den Pendel sehen, wo wir den Pendelschlag hören. Aber das Bewußtsein faßt immer nur einen einzigen Gedanken, eine einzige Vorstellung. Wo es den Anschein hat, als wenn wir gleichzeitig eine Mehrheit von Vorstellungen besäßen, da täuscht uns eine sehr rasche Aufeinanderfolge. Das Bewußtsein ist nicht ein unbegrenzter Raum, in welchem eine bunte Masse neben einander liegt, sondern wohlgeordnet an einem einzigen Faden aufgereiht, bewegt sich bald langsam, bald schneller durch dasselbe die Linie der Gedanken. Einer wird nach dem andern aus dem dunkeln Raum der unbewußten Seele heraufgezogen und verschwindet in dem Moment wieder, wo sein Nachfolger in’s Licht getreten ist. In jenem dunkeln Raum der Unbewußtheit, dort freilich liegt unendlich Vieles beisammen, wovon wir nicht die leiseste Ahnung haben, dort ist die wahre Gedankenfabrik,

Wo die Schifflein herüber-, hinüberschießen,
Die Fäden ungesehen fließen.

Aber wenn das Meisterstück, der Gedanke, fertig vor das Auge tritt, dann ist es ein Ganzes, an dem Keiner die Fäden mehr zählen wird, aus denen es zusammengewebt ist. –




Die erste Probefahrt durch die Londoner Untergrund-Eisenbahn.

London ist, wie die Liebe, eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Ich für meinen Theil habe von dem unterirdischen, überirdischen und gewöhnlichen London auf ebener oder vielmehr hügeliger Erde schon unendlich viel gesehen, gelesen und geschrieben, aber meine unterirdische Eisenbahnreise unter London hin machte ich mit allen Gefährten zum ersten Male. Es war die erste Versuchsreise mit gewöhnlichen Sterblichen von der Oberwelt, denen nicht nur freie Fahrt, sondern auch, im Falle eines mit dem Leben bezahlten Unglücks, unentgeltliches Begräbniß zugesichert war. Außerdem erwartete die Ueberlebenden ein Frühstück mit Champagner am nördlichen Ende der unterirdischen Eisenbahn.

Die Sache war, daß gewöhnliche Bewohner durch eine erste Fahrt Vertrauen auf das vielfach verdächtigte Unternehmen begründen helfen sollten. Wie alles Neue findet auch die unterirdische Londoner Eisenbahn ungemein viel bittere Feinde. Obgleich die Menschen immer nach „Fortschritt“ schreien, brüllen die Meisten doch gern vor Zorn, wenn ihnen wirklich ein wesentlicher Fortschritt, der sie aus der dämlichen Gewohnheit ihres philiströsen Daseins aufstört, zugemuthet wird. In wie schlechtem Rufe die neue Eisenbahn stand, erfuhr ich gerade da am meisten, als ich mit dem Omnibus nach dem Westend-Ende derselben fuhr, um die erste Fahrt mitzumachen.

Als wir in Oxfordstreet vor den neuen gemauerten Thürmen vorbeifuhren, frug ein Fremder aus der Provinz: „Bitt’ um Entschuldigung, was mag dieser seltsame Bau dort bedeuten?“

Der Angeredete, der täglich zwei Mal vorbeifährt, antwortet, ohne hinzusehen: „Drainage, Sir, Drainage.“

„Bitt’ um Verzeihung,“ fällt ein Herr daneben ein, „nichts von Drainage, sondern „levels“.“[1]

„Levels? Bitt’ um Verzeihung, was für levels?“

„Nichts von levels, sondern shafts,“[2] – neue Erklärung.

„Schaft?“ zwitscherte eine Dame. „Gott bewahre! Mir hat man gesagt, ’s soll ’n Monument für ’n Prinzen Albert werden.“

„Dafür sind über 100,000 Pfund gesammelt, für Prinz-Albert-Monumente zu Dutzenden; aber er braucht keins mehr. Er hat für mehr als hundert Wohlthätigkeits-, Kunst- und Bildungs-Anstalten den Grundstein gelegt, und die erste Weltindustrie-Ausstellung war seine Idee, und da – draußen – haben Sie’s gesehen? – die neue Ausstellung ist seine Idee. Ich will Ihnen sagen, was diese Thürme bedeuten. Stationen für die Stadtposttelegraphennetze.“

„Sehr gütig, Gentlemen,“ sagt der Dumme aus der Provinz, „aber das kann’s Alles nicht sein. Ich habe viel von der unterirdischen Eisenbahn gehört. Die muß hier unten weg laufen. So schließ’ ich von meiner Karte. Und so hab’ ich meine eigene Vermuthung: diese Thürme haben etwas mit der Bahn unten zu thun.“

„Richtig,“ platzte ich heraus, „ganz richtig. Es sind Schacht- oder Licht- und Luftthürme für die Untergrund-Eisenbahn.“

„Schacht-, Luft- und Lichtthürme für da unten? Lächerlich! Da unten giebt’s weder Licht noch Luft. Nichts als Dampf und Tod.“

„Und Wasser in Menge.“

„Ja, gehörig. Die Arbeiter unten tragen alle Jacken von Kork.“

„Jacken von Kork? Mein Gott – wozu denn?“

Ein ernsthafter, feierlicher Gentleman in weißer Cravatte fiel hier salbungsvoll ein: „Meine feste Ueberzeugung ist, daß Erd’ und Wasser uns gegeben wurden, um darauf, nicht unter denselben zu reisen, und daß jeder gottlose Versuch, diese göttliche Bestimmung zu verletzen, vom Himmel bestraft wird.“

„Ich bin eben auf dem Wege, die erste Probefahrt mitzumachen,“ platzte ich unwillig gegen die gottlose Frömmigkeit der weißen Cravatte heraus.

Ich weiß nicht mehr, was sie Alles sagten, lachten und höhnten, bis ich in Paddington[3] ausstieg und mich hier auf dem tiefen, stadtgroßen Bahnhofe der großen Westbahn zurecht fragte.

Ganz im nordöstlichen Winkel des Personenperrons entdeckte ich eine klein aussehende, schwarze, gähnende runde Oeffnung. Das ist die Untergrundbahn, hieß es. Kaum groß genug, wie es schien, daß ein langer Mann mit Angströhre drin stehen oder eine crinolinirte Unschöne in der Quere Platz finden könnte. Ganz in der Nähe betrachtet wurde sie freilich größer, blieb aber entschieden zu klein für die gewöhnlichste Locomotive. Richtig. Darum haben sie ungewöhnliche für diese Maulwurfsgänge. Da steht eine vor dem Eingange, doppelt so lang, als jede andere, die ich bisher gesehen, mit gar keinem hervorragenden Schlot, dafür aber doppelt so dünn und schlank und mit einer wunderbaren Fähigkeit, wie ich hernach sah, Dampf auszupuffen, oder es ganz zu lassen, ohne dadurch an Kraft zu verlieren. In der That steckt sie, sobald sie im Tunnel zu thun hat, ihre Pfeife in die Tasche und arbeitet, ohne zu rauchen.

Nach etwa einer halben Stunde standen vielleicht ein halbes Hundert Herren um dieses seltsame Monstrum und beäugelten es mit prüfenden Blicken.

„Wenn wir nur erst beim Champagner-Frühstück im großen Nord-Hotel säßen,“ bemerkte Einer der Herren.

„Also ’s giebt ganz gewiß Champagner?“ frug ein Anderer, der ganz besonders ängstlich aussah.

„Sicherlich, und mehr als wir trinken können.“

„Wie so?“

„Nun, es ist für Alle gedeckt, und Sie werden doch nicht glauben, daß wir Alle lebendig hinkommen?“

  1. Wasserwage, Nivellirthürme und zehn andere Bedeutungen.
  2. Wieder ein vieldeutiges Wort ohne nähere Angabe: Schaft, Spitze, Stamm, Deichsel, Schacht, Stiel, Griff.
  3. Die „Untergrundbahn“ verbindet zunächst die beiden großen Hauptbahnhöfe der großen West- und großen Nordbahn unter vier Stadttheilen hinweg. Man arbeitet aber schon an weiteren Untergrund-Verbindungen, sodaß London an manchen Stellen aussieht wie ein aufgegrabenes Herculanum und Pompeji. Der erstere Bahnhof liegt im Stadttheile Paddington.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_265.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)