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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Es war stillschweigend zwischen uns abgemacht, daß wir nicht davon sprachen. Du öffnetest mir Dein ganzes Herz, Dein ganzes Leben, und schlosst mich mit meiner völligen Verschlossenheit in Dein treues, argloses Herz ein. Da kommt heute plötzlich der häßliche Polizeispion und fragt nach mir. Laß ihn, Du sollst Alles von mir erfahren, Marie; mein Herz und mein Leben sollen so klar und so offen vor Dir liegen, wie die Deinigen vor mir liegen. Und bald. Ich habe vielleicht nur noch Wochen zu leben. Aber bis dahin, Marie, sieh mir in die Augen, nur in die Augen. Siehst Du ein Verbrechen darin?“

„Nein, nein, Johanna, Du brave, Du reine Seele.“

„Und doch, Marie – Aber nein. Wenn Du Alles von mir weißt, dann sollst Du es Einem mittheilen, und dann – Du hast mich dann ja begraben – werdet Ihr Beide mich ja nicht verdammen. – Da kommt der Fremde. Du hattest Recht, es ist ein häßlicher, freundlicher, kriechender Mensch. Er ist gewiß ein Polizeispion. Willst Du hier bleiben, Marie, während er mit mir spricht?“

„Wie Du es wünschest, Johanna.“

„So bleibe.“

Ein kleiner, häßlicher, freundlicher, kriechender Mensch trat in das Zimmer. Er stutzte, als er die zweite Frau sah, die Wirthin des Gasthofes, in dem er abgestiegen war, die er bei seiner Ankunft schon gesehen hatte. Gleich darauf lächelte er freundlich.

„Madame hat mich angekündigt. Desto besser, so kann ich ohne Umschweife zur Sache kommen und mich kürzer fassen.“

Er wandte sich an die Lehrerin, immer freundlich. „Sie heißen Johanna Neumann, mein Fräulein?“

„So nenne ich mich, mein Herr. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?“

„Ich werde sogleich die Ehre haben, es Ihnen zu sagen. Vorher möchte ich mir nur die Frage an Sie erlauben, ob Ihnen eine Dame Namens Ida Schade bekannt ist?“

Er sah die Gefragte scharf bei der Frage an. Sie ertrug ruhig seinen Blick. Kein Zug in ihrem Gesichte veränderte sich. Sie erwiderte ihm mit gleicher Ruhe:

„Mein Herr, wozu richten Sie diese Frage an mich?“

„Ich bemerkte schon, mein Fräulein, ich würde sogleich die Ehre haben, es Ihnen zu sagen.“

„Und wer sind Sie, mein Herr?“

„Auch das, mein Fräulein, werde ich –“

Die Lehrerin unterbrach ihn strenge. „Mein Herr, ich will von Ihnen gar nichts erfahren. Verlassen Sie mich auf der Stelle.“

Der Fremde blieb freundlich, wie zuvor. „O, mein Fräulein, ich hätte Ihnen vielleicht doch eine angenehme Nachricht zu bringen. Hätten Sie die Güte dieses zu lesen?“

Er zog ein Zeitungsblatt hervor und legte es vor ihr auf den Tisch. Er bezeichnete mit dem Finger eine Stelle. Sie erbebte doch leise. Sie hatte etwas gelesen, was sie nicht erwartet hatte. Sie war auf etwas ganz Anderes gefaßt gewesen.

„Es überrascht Sie, mein Fräulein?“ fragte der Fremde.

Sie hatte vergessen, daß sie dem Menschen schon die Thür gewiesen hatte.

„Nein, mein Herr,“ antwortete sie.

„Sie hatten es schon gelesen?“

„Nein, mein Herr.“

„Ah, so haben Sie es wohl nicht genau oder nicht vollständig gelesen. Erlauben Sie, daß ich es Ihnen vorlesen darf?“

Er nahm, ohne ihre Antwort abzuwarten, das Zeitungsblatt und las:

„I. S. wird an Diessenhofen erinnert und um Nachricht von A. H. gebeten, der wieder in der Heimath ist.“


(Schluß folgt.)


Hamburger Bilder.

Von E. Willkomm.
Nr. 2. Auf der Bleichenbrücke.

Wie in allen großen und volkreichen Städten ist auch in Hamburg das Leben auf Straßen und Plätzen ein mannigfach wechselndes und nach den Stadtvierteln sehr verschiedenes. Im Nordostende, wo durch den großen Brand des Jahres 1842 einige glänzende Straßen mit luxuriös eingerichteten Häusern entstanden, wohnt jetzt größtenteils die vornehme, d. h. die reiche Welt, und das hastige Drängen und Treiben der Geschäftsleute, der Händler und Ausrufer aller Art verliert sich hier nach und nach oder wird doch nicht störend. Dagegen wimmeln alle Straßen und Plätze, die den Neubau begrenzen, zum Theil auch dieser selbst noch von handeltreibendem und geschäftigem Volk. Charakteristisch für das Volksleben sind besonders die zahlreichen Landungstreppen an den breiteren Fleethen, wo täglich Hunderte von Kähnen und jenen schnellen Seglern der Elbe anlegen, welche die große Stadt mit Grünwaaren, Milch, Fischen, Kartoffeln, Geflügel und hundert anderen zur Ernährung ihrer Einwohner unentbehrlichen Gegenständen versehen. In dieser Hinsicht bieten alle den Hafen begrenzende Straßen von früh bis zum Abend ein höchst belebtes Bild eigenthümlichen und unterhaltenden Treibens, und von allen dem Verkehr offen stehenden größeren Plätzen ist keiner betrachtenswerther als der Hopfenmarkt, wo der Gemüse-, Obst- und Fischhandel seinen Hauptsitz aufgeschlagen hat und alle Arten von Hökern ihre Einkäufe machen.

Eine ganz besondere Art Menschen sind die Hamburger Fischfrauen. Ihr Ruf und Ruhm ist ein alter und verbreitet sich weit über das Weichbild der reichen Handelsrepublik. Es ließen sich von diesen originellen Persönlichkeiten viele Geschichten erzählen, doch müssen wir damit zurückhalten, theils weil das Idiom, in dem allein sie erzählt werden können, der Mehrzahl unserer Leser kaum verständlich sein würde, theils weil gerade die originellsten Auslassungen dieser derben Naturkinder zart empfindende Seelen leicht unangenehm berühren dürften.

Jede hökernde Persönlichkeit hat in Hamburg ihre besondere Region, wo sie entweder allein oder mit einigen Befreundeten, welche gleiche Rechte in Anspruch nehmen, herrscht. Fremde Eindringlinge werden da so leicht nicht geduldet, wenigstens dürfte dies erst nach langen, lauten und harten Wortkämpfen, denen sich möglicherweise auch Beweise fühlbaren activen Widerstandes zugesellen könnten, möglich sein. Ergießt sich nun diese Unzahl meistentheils laut schreiender Straßenhändler durch alle Quartiere der Stadt, dann entwickelt sich ein ganz neues, buntes und gewöhnlich sehr munteres Leben. Die Brodhändler, welche früh am Morgen zuerst ihre Kunden mit frischem Gebäck versorgen, je nach Wunsch und Geschmack der Einzelnen, haben um die Zeit, wo der Handel der Ausrufer beginnt, ihre Morgengeschäfte beendigt. Sie verhalten sich stets schweigsam, denn es gebricht ihnen an Zeit. Auch gestattet ihr Handel kein Feilschen. Da sie immer die Ersten in jedem Hause, auf jeder Etage sind, welche den Bewohnern derselben etwas bringen, so übernehmen sie in der Regel auch die Rolle des Weckers. Das Klopfen oder Klingeln des Brodmanns sagt der Köchin des Hauses, daß es für sie und ihre Mitdienstboten hohe Zeit sei, sich den Armen des Schlafes und den süßen Träumen, die Morpheus über ihr ruhendes Haupt fortflattern läßt, durch einen schnellen Entschluß zu entreißen.

In jedes Haus, in alle Keller, in Gänge, Höfe, auf Säle und Plätze dringen die unermüdlichen, vor keinem Hindernisse, vor keinem Begegnisse, vor keiner noch so finstern, steilen und engen Treppe zurückschreckenden Händlerinnen, diese mit heiserer Fistelstimme ihr ewiges: „Kantüffeln (Kartoffeln), söte (süße) Kantüffeln!“ rufend, jene in länger gezogenen und breiteren Tönen frische junge Gemüse anbietend. Keine Händlerin aber schreit lauter und tapferer, als die stämmige Fischverkäuferin, der man es schon von Weitem ansieht, daß sie sich für eine Person von Wichtigkeit hält, und daß sie genau weiß, was sie will. In der Regel zeigt sie entschlossene, derbe Gesichtszüge von energischer Farbe, die ihr nicht immer die scharfe Luft auf dem Wasser angeblasen hat.

Diesen Händlerinnen könnte man den Beinamen der singenden geben, denn ihr Ruf hat stets durch die Eigenthümlichkeit des


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_260.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)