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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ich bekam mehrere Male deutsche Zeitungen in die Hand, in denen ich unter den Ankündigungen folgende Aufforderung las: „I. S. wird an Diessenhofen erinnert und um Nachricht nach Z. gebeten.“ I. bedeutete Ida, Z. Zürich. Den Hausnamen der Gesuchten kannte ich nicht. Aber es blieb mir kein Zweifel, daß die Aufforderungen von Roth ausgingen. Ich sprach nicht mit ihm darüber. Ich konnte ihm ja nicht helfen.

So kam das Ende des Jahres 1858, der Anfang des Jahres 1859. Amnestie! hatte es seitdem täglich geheißen. Alle Welt forderte, alle Welt erwartete sie; Deutschland, Europa, wer an Recht, wer an Bildung glaubte. Die Flüchtlinge selbst konnten am wenigsten an sie glauben; sie erwarteten sie am schmerzlichsten. Sie mußten warten bis zum Jahre 1861. Doch – da hatten sie nicht mehr darauf gewartet; nur Wenige vielleicht. Unter den Wenigen war Roth! Wir hielten noch das so Manche enttäuschende Zeitungsblatt in der Hand, da kam er eilig zu mir.

„Gehöre ich zu den Amnestirten?“ rief er.

Er hatte ein Recht zu der Frage. Noch jetzt, im Jahre 1862, streitet man sich, wer amnestirt sei und wer nicht.

„Ich denke,“ antwortete ich ihm.

„Darf ich in die Heimath zurückkehren?“

„Das ist eine andere Frage.“

Ich setzte ihm meine Bedenken auseinander. Auch sie sind noch heute nicht sämmtlich gelöst.

„Wird man, wenn ich zurückkehre, mich einsperren?“

„Nach dem Willen des Monarchen könnte man es nicht. Aber die Staatsanwälte und Gerichte in jenem Lande –“

„Gleichviel. Ich muß hin, noch heute.“

Er reiste ab, an demselben Tage. Ich sehe ihn noch, wie er Abschied von mir nahm. Ich hatte ihn zum Bahnhof begleitet, das schöne, blasse Gesicht war geröthet vor Erwartung, in seinen Augen glänzte Hoffnung. Vor dem Einsteigen nahm er mich noch einen Augenblick auf die Seite. Er mußte, wenn auch nur mit wenigen Worten, nur mit Andeutungen, das volle Herz gegen mich ausschütten.

„Ich muß sie aufsuchen. Sie wissen, wen ich meine. Ich werde sie finden, sie kann keine Schuldige sein. Nein, nein! Und dann kehre ich mit ihr hierher zurück. Hierher! O, wie schön wird mir dann die freie Schweiz sein!“

Er reiste ab. Seit zwölf Jahren hatte er nichts von ihr gehört, gar nichts, wo, wie sie lebte, ob sie lebte.

Ich hatte einmal an der russischen Grenze einen Kosaken gesehen, dessen siebenundzwanzigjährige Dienstzeit zu Ende war. Er hatte die ganzen siebenundzwanzig Jahre an der preußischen Grenze gestanden und in dieser ganzen langen Zeit von den Seinigen, die er in der Heimath zurückgelassen, nicht die mindeste Nachricht erhalten. Am folgenden Morgen sollte er die Rückreise in die Heimath antreten. Er freute sich darauf wie ein Kind, denn er hatte eine Frau und ein Kind zurückgelassen. Die Frau war damals zwanzig, das Kind anderthalb Jahre alt gewesen. Ach, wie wird meine Frau sich freuen, wenn sie mich wiedersieht! Sie war so schön und hatte mich so lieb! Und mein Kind! Es war auch so schön! Ob es wohl recht groß geworden ist? – Er selbst war ein Greis geworden. – Der arme Mann sollte weder Frau noch Kind noch Heimath wiedersehen. Er war, um vor seiner Rückkehr in das ferne Kosakenland noch einmal einen recht guten, süßen Schnaps zu trinken, nach Preußen gekommen und hatte sich heimlich über die Grenze stehlen müssen. So mußte er auch heimlich in der Nacht zurück. Da hatten die Grenzkosaken, gestern noch seine Cameraden, ihn für einen preußischen Schmuggler gehalten und todtgeschossen. Der arme Mann! War er wirklich so arm, der Mann? Was hätte er in seiner Heimath gefunden? Eifersucht und Haß, Bosheit und Tücke, Streit und Hader; das hätte er gefunden in seinen alten Tagen, in der Stunde seiner Ankunft, bis hin zu seinem Grabe. – Der alte Grenzkosak wollte mir nicht aus dem Sinn kommen, als mein Freund abreiste, als er fort war, als ich nichts von ihm hörte. Hören sollte ich bald von ihm. Was ihm begegnet war, dem Amnestirten in der Heimath? Zwei einfache Bilder werden es dem geneigten Leser zeigen. –

In einer kleinen, durch Wald und Gebirge von dem Verkehr der großen Welt abgeschnittenen Landstadt lag, von einem freundlichen Gärtchen umgeben, ein hübsches, kleines Haus. In einem hübschen, freundlichen Zimmer desselben saß, umgeben von zehn oder zwölf Kindern, eine Frau, welche im Anfange der dreißiger Jahre stand und noch sehr schön war. Aber ihre Schönheit war jene unbeschreibliche, jene unendlich zarte, feine, durchsichtige Schönheit einer kranken, in ihrer Krankheit dahin zehrenden Frau.

Die Kinder waren frische, fröhliche Mädchen von sechs bis zehn Jahren. Sie strickten, einige näheten auch schon. Sie waren hier in einer Privatschule der kranken Dame, das sah man. Die Nachmittagsstunden der Schule – und es war Nachmittag - waren zu jenen Arbeiten bestimmt. Die Lehrerin überwachte sie, unterwies, half. Sie erzählte dabei den Kindern hübsche Geschichten, freundliche Märchen, die Kinder erzählten sie sich unter sich. Lehrerin und Kinder liebten sich, auch das sah man.

Die Stunde wurde unterbrochen. Eine hübsche Frau, in dem Alter der Lehrerin, trat in das Zimmer, das zugleich die Schulstube und die Wohnstube der Lehrerin war. Die Frau hatte etwas auf dem Herzen. In Gegenwart der Kinder konnte sie es nicht sagen. Die Lehrerin gewahrte es.

„Hören wir auf,“ sagte sie zu den Kindern. „Es ist doch bald vier Uhr.“

Die Kinder standen auf, nahmen ihre Sachen und gingen. Jedes Einzelne gab der Lehrerin freundlich die Hand.

„Gute Nacht, Fräulein! Bis morgen!“

Jedem Einzelnen erwiderte sie freundlich: „Gute Nacht, mein liebes Kind! Bis morgen!“

Die Kinder waren fort. Die beiden Frauen waren allein.

„Du hast mir etwas zu sagen, Marie, ich sehe es Dir an.“

„Ja, Johanna.“

„Und Du zögerst doch? Du hast nicht den Muth?

„Mir ist in der That so eigen –“

„Es ist etwas Unangenehmes? Sprich es aus, was es auch sei.“

„Es ist, so wie es ist, nur etwas Gleichgültiges. Vor einer Viertelstunde kam ein Fremder bei uns an.“

Die Lehrerin durchzuckte etwas. Sie that sich Gewalt an, keine Unruhe, keine Bewegung zu zeigen.

„Und?“ fragte sie.

„Er erkundigte sich nach Dir.“

„Nach mir? Er nannte meinen Namen?“

„Er nannte ihn und fragte, wie lange Du hier seist, wie Du lebtest, ob Du fremde Besuche empfingest?“

„Wen fragte er?“

„Meinen Mann.“

„Und was antwortete ihm dieser?“

„Er erzählte ihm kurz, wie Du vor zwölf Jahren hier angekommen seist und krank in unserem Gasthofe habest verweilen müssen, wie ich während Deiner Krankheit mit Dir befreundet geworden, wie wir Dich Alle lieb gewonnen, und wie Du auf unser Zureden Deinen Plan, in der größeren Hauptstadt eine Stelle als Lehrerin anzunehmen, aufgegeben und hier eine Schule gegründet hättest. Mein Mann sollte ihm noch weitere Auskunft geben. Ich wartete es nicht ab, denn ich mußte hierher eilen, Dich zu benachrichtigen.“

„Wie sah der Fremde aus?“ fragte die Lehrerin.

„Er ist ein kleiner häßlicher Mensch; freundlich, aber nur um so unangenehmer.“

Die Lehrerin mußte sich mehr zusammen nehmen, um eine innere Unruhe zu verbergen.

„Kannst Du ihn in Deinem Gedächtnisse unterbringen?“ fragte die Wirthin.

„Ich sinne vergeblich nach.“

„Er kam mir vor, wie ein Polizeispion.“

Die Lehrerin war wieder vollkommen gefaßt und ruhig, und sie war es von selbst geworden, ohne einen Zwang, den sie sich hätte auflegen müssen. Sie saß einem kleinen Spiegel gegenüber, in welchem sie ihr feines, weißes, krankes Gesicht gesehen hatte, jenen wunderbar schönen und traurigen Todtenglanz, wie Himmelsglanz der himmelblauen Augen. Ein erhabener, stiller, milder Muth erfüllte ihr Wesen, gleichsam der Gedanke: Was mir noch kommt, es kann mich nur erlösen, erhöhen!

„Und der Polizeispion hat Dich erschreckt, Marie?“ sagte sie laut zu der Freundin.

„Ich kann es nicht leugnen.“

„Du konntest nicht dafür, Marie. Es war meine Schuld. Ich habe Dir nie von mir, von meinem früheren Leben etwas gesagt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_259.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)