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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ihn nicht weiter. Ich blieb noch zwei Tage im Schlosse und sah nur den alten Friedrich, der mir aber nichts mehr erzählte und den ich auch nichts mehr fragte.

Am dritten Tage konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich fürchtete, in der Einsamkeit wahnsinnig zu werden. Ich mußte fort, auf die Gefahr hin, ergriffen, erschossen zu werden. An meinem Leben war mir nichts mehr gelegen. Ich wurde gefangen; schon nach wenigen Tagen. Die Polizei war damals allmächtig und allwissend, wenn es politischen Verbrechern galt. Wäre ich ein Räuber oder Mörder gewesen, ich hätte entkommen können.

Mir wurde als Hochverräther der Proceß gemacht. Damals war Jeder ein Hochverräther. Selbst das Volk war gleichgültig dagegen geworden. Das Regiment der Zeit hatte schnell die Rechtsbegriffe zu verwirren gewußt. Ich war mit gleichgültig geworden. Da vernahm ich in meiner Haft von der Vergiftung der Gräfin –; von dem Proceß, der ihrer Mörderin gemacht werde; von der unbegreiflichen Flucht dieser Mörderin aus ihrer strengen Haft.

Die Liebe zum Leben erwachte wieder in mir. Ich entfloh. Es kostete mir wenige Mühe, vieles Geld. Solches Regiment mußte von feilen Schurken bedient werden. Ich suchte zuerst die unglückliche Mörderin auf, fand sie aber nicht. Ich warf mich in die badische Revolution. Darauf – darauf kam ich hierher. Ich habe jetzt Alles erzählt. Und nun frage ich Sie: Ist die Unglückliche eine Mörderin, kann sie es sein?“

Ich mußte mir dieselbe Frage stellen. Aber er hatte mir nicht Alles mitgetheilt. Er hatte mir nicht gesagt, daß er die Unglückliche liebte; er hatte mir verschwiegen, daß er sie später wiedergesehen hatte. Diese Erzieherin Ida, das Mädchen, das mit ihm aufgewachsen, mit ihm auferzogen war, und jene Schwester Marcella aus dem Kloster Diessenhofen, die er ja auch Ida genannt hatte, sie waren, darüber konnte nicht der mindeste Zweifel sein, eine und dieselbe Person. Und endlich, daß sie sich schuldig erklärt habe, das hatte er selbst angedeutet.

„Sie haben sie später wiedergesehen?“ fragte ich ihn doch.

Er wich ebenfalls einer Antwort aus.

„Giebt das, was ich Ihnen mitgetheilt habe, Ihnen kein klares Bild für ein Urtheil?“

„Nein. Sie selbst haben ja kein bestimmtes Urtheil, und Sie waren unmittelbarer Zeuge.“

„Aber ein befangener. Indeß – ich muß Ihr Urtheil haben, und Sie müssen Alles wissen. Ja, ich habe sie später wiedergesehen.“

„Und was sagte sie Ihnen?“

„Sie erklärte sich schuldig.“

„Unter Mittheilung bestimmter Thatsachen?“

„Nein. Sie verweigerte mir jede thatsächliche Auskunft.“

Ich mußte ihn fragend ansehen. Er kämpfte mit sich, ob er ganz offen gegen mich sein solle. Sein verschlossener Charakter litt es wohl nicht.

„Ich versichere Ihnen,“ sagte er, „ich konnte keine einzige Einzelheit von ihr erfahren.“

„Sie haben auch sonst über Ermittelungen der Untersuchung keine Nachricht erhalten?“

„Man hat mir nur mitgetheilt, daß nach der Flucht der Unglücklichen die Acten zurückgelegt sind. Das Resultat der Untersuchung ist heimlich gehalten.“

„Gegen Ihren Freund, den Grafen, war also keine Untersuchung eingeleitet?“

„Nein. – Und nun Ihr Urtheil!“ wiederholte er.

Ich sah, wie er es mit Spannung erwartete. Aber ich konnte mir keins bilden.

„Eitelkeit und Schwäche eines Weibes sind groß,“ antwortete ich ihm. „Die Verführung vermag noch mehr über sie.“

„Sie halten sie also für schuldig?“

„Ich habe gar kein Urtheil.“

„Sie können sie für schuldig halten, ohne daß sie verführt war?“

„Nein.“

„Der Graf hatte sie also verführt! Und sie allein wurde zur Untersuchung gezogen? Er nicht?“

Ich zuckte die Achseln.

„Es war damals eine Zeit der höchsten Corruption und Feigheit der Gerichte. Und – ich kann kein Urtheil fällen, aber darf ich Ihnen meine Vermuthung aussprechen?“

„Ich bitte auch darum.“

„Ihr Freund war ein Schurke, innerlich ein vollendeter Lump, ein um so größerer und gefährlicherer, je mehr er äußerlich den braven Edelmann, den vollendeten Mann von Ehre machen konnte. Der durch ihre Heftigkeit und ihren Jähzorn ihn quälenden Frau war er müde, wenn auch seine Heuchelei äußerlich ein leidliches, selbst gutes Verhältniß aufrecht zu erhalten wußte. Eine Leidenschaft für die schöne Erzieherin kam hinzu. Er konnte diese nicht gewinnen, so lange seine Frau lebte. Die Frau mußte beseitigt werden. Die Geliebte mußte Mitschuldige werden, sie war dann sein willenloses Opfer. Denn die Bürgerliche, die arme Erzieherin seiner Schwestern zu heirathen, daran dachte der vornehme, stolze Graf wohl nicht. So ist die Gräfin vergiftet. Wollen Sie einen besonderen Anhalt für meine Vermuthung?“

Er nickte mit dem Kopfe. Sprechen konnte er nicht.

„Er liegt in den wenigen Worten, die Sie den Grafen in seinem Cabinete mit dem Arzte sprechen hörten. Er sah durch diesen die Vergiftung errathen. Durch das Gericht mußte sie vollständig festgestellt, mußte noch mehr entdeckt werden. Er suchte sofort die ganze Schuld auf die Erzieherin zu wälzen. Ein Mann von Ehre hätte von der treuen, hingebenden Pflegerin der Gattin jeden Verdacht zu entfernen gesucht. War er selbst unschuldig, so konnte zudem die bloße Entdeckung der Vergiftung nicht auf einmal einen Verdacht in ihm begründen, von dem er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Um vollständig, ohne Rückhalt den gemeinen Denuncianten machen zu können, verließ er mit dem Arzte das Cabinet, an dessen Seite er Sie wußte. Dabei rechnete er auf den Edelmuth der Armen, die er zur Verbrecherin gemacht hatte und die er dann verrieth, und auf seinen hohen Stand, seine Verbindungen, die schlechten Gerichte.“

Ich hatte ihm nur eine Vermuthung, aber wohl unwillkürlich im Tone wachsender innerer Ueberzeugung, ausgesprochen. Er war sehr ergriffen und kämpfte noch einmal mit sich, ob er mich ganz zum Vertrauten machen solle. Aber es handelte sich um die geheimsten Gefühle des verschlossenen Mannes. Er konnte sich nicht entschließen.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er kurz. „Ich muß die Gedanken sammeln, die Sie in mir angeregt haben. Ich darf Sie wiedersehen?“

„Sie werden mir immer willkommen sein.“

Er verließ mich. –

Er suchte mich seitdem öfter auf. Aber nie kam er wieder auf jene Sache zurück. Er mochte wohl manchmal das Bedürfniß fühlen, sein Herz ganz gegen mich auszuschütten, und mochte auch gar mit dem Vorsatze, es zu thun, zu mir gekommen sein, aber entschließen konnte er sich nicht, einen Entschluß auszuführen vermochte er nicht. Ich sah dennoch in sein Inneres und sah darin die innige, brennende, herzliche Liebe zu dem Mädchen, das er, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, von früher Jugend an geliebt hatte und von dem sein Herz sich nicht losreißen konnte, obwohl er sie für eine Verbrecherin, für eine Ungetreue, für eine Mörderin und Vergifterin hielt und halten mußte. Aber mußte er sie dafür halten? Konnte sie nicht, trotzdem daß so viele Anzeichen gegen sie sprachen, daß sie selbst sich für schuldig erklärte, konnte sie nicht dennoch unschuldig sein? Sie liebte ihn, wie er sie liebte, sie hatte ein edles Herz; sie war als Mörderin verdächtig geworden, angeklagt, verhaftet; sie war aus der Haft in einer Weise entkommen, die nur die eine Deutung zuließ, daß der Graf sie befreit habe; dann war sie vor der Welt seine Mitschuldige. Konnte sie so die Hand eines braven, edlen Mannes annehmen, der zudem wahrscheinlich seinem Stande nach eben so hoch über dem armen Bürgermädchen stand, wie jener Graf? Und wie leicht hatte sie dann, um Bitten zu entgehen, die sie nicht anders von sich abwehren konnte, um den Qualen des eigenen liebenden Herzens zu entgehen, zu der mit einem Male Alles abschneidenden Unwahrheit greifen können, dem Geliebten sich als Verbrecherin darzustellen, als die Verbrecherin, die sie in den Augen der Welt doch einmal war und blieb? Es war ein Heroismus; aber giebt es denn in der Welt eine große und heldenmüthige Aufopferung, deren das liebende Herz des Weibes nicht fähig wäre? – Er wurde unruhiger, wenn er es mir auch mehr zu verbergen suchte. Die Ungewißheit war seine größte Unruhe. Er hatte Schritte gethan, um zu einer Gewißheit zu gelangen. Wie wenige Schritte hatte er als Flüchtling thun können! In einer Angelegenheit, in der er keinen Menschen zum Vertrauten machen durfte, hatte er sich nach allen Seiten hin gefesselt sehen müssen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_258.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)