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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sein Ideal, wenigstens keinen begabteren und redlicheren Apostel gefunden hat. Frei von den Uebertreibungen und Verzerrungen, durch welche Proudhon, Blanc und Fourrier den Socialismus verunstalteten, wußte Ruge auch hier die angeborene Achtung der Deutschen vor Ehe und Staat mit seinem Freiheitstreben zu vereinigen; man braucht ihm nicht anzuhangen, aber versöhnt ist man mit ihm um der Reinheit seiner Ideen willen.

Das ist in aller Kürze Lebenslauf und Charakteristik eines deutschen Schriftstellers, in dessen gegenwärtige Häuslichkeit ein Besuch uns einführen soll.

Eine Geschäftsreise, erzählt unser Gewährsmann, führte mich im September 1861 nach London und ein Empfehlungsbrief in die Familie des Dr. Henz, eines deutschen Landsmanns, der mir eines Tages, nachdem meine Geschäfte beendet waren, den Vorschlag machte, seinen Freund Ruge in Brighton zu besuchen, dessen Geburtstag am morgenden Tage gefeiert werden solle.

Zur richtigen Stunde fand ich mich am bestimmten Tage am Bahnhofe ein und dampfte mit Freund Henz ab. Unterwegs erzählte mir Henz, daß Ruge’s Bestrebungen, sein politisches Glaubensbekenntnis zu verwirklichen, in der That sein bedeutendes Vermögen schon verschlungen hatten, als er genöthigt war, Deutschland zu verlassen. Ohne Aussicht auf eine neue Existenz, ohne Freunde, ohne Geld war er in Brighton angekommen, doch hatte er den Muth nicht sinken lassen. Eine Gattin war ihm in’s Exil gefolgt, so edel und gut, daß sie der Sonnenschein in seinem Leben war. Sie erhellte ihm die trübsten Tage seines Daseins und verlor nie ihren schönen Gleichmuth. Um sein häusliches Glück vollständig zu machen, hatte ihm Gott vier wohlgerathene Kinder geschenkt. Die Erziehung des ältesten Sohnes wurde in Berlin beendet, die drei andern folgten den Eltern nach England. Es gelang Ruge, sich in Brighton eine Existenz zu gründen, indem er sich als Lehrer beschäftigte und seine freie Zeit literarischer Thätigkeit widmete. Bald hatte er sich dort einen guten Ruf und ein anständiges Auskommen erworben, und er konnte nun in sein Haus den angenehmen Comfort einführen, der es jetzt ziert.

Als wir bei Ruge gemeldet waren, kam er uns mit einem sehr charakteristischen „Halloh!“ entgegen, und sein Jubelruf: „Freund Henz ist da!“ schallte durch das ganze Haus. Ruge’s Gattin erschien, ich wurde Beiden vorgestellt – und sie empfingen mich auf das Freundlichste. Man behandelte mich wie einen, alten Bekannten, und bald fühlte ich mich heimisch genug bei ihnen, um unbefangen beobachten zu können. An Ruge und seiner Gattin ist die Zeit sehr schonend vorübergegangen, sie hat ihnen ihre Spuren so leise als möglich aufgedrückt. Ruge ist eine große, kräftige, zum Embonpoint geneigte Gestalt, sein Schritt ist fest, und nur seine etwas vorgebeugte Haltung verräth, daß der Mittag seines Lebens vorübergezogen. Er erzählt viel und mit großem Humor, wobei seine blauen Augen oft schalkhaft aufleuchten. – Seine Urtheile sind etwas schroff und würden leicht verletzen, wenn sich nicht in seinem ganzen Wesen eine große Gutmüthigkeit ausspräche. Wir verbrachten eine angenehme Stunde in seinem gemüthlichen „Parlor“, bis wir zum Mittagessen gerufen wurden. Gegen den englischen Gebrauch essen Ruge’s nach deutscher Sitte um 1 Uhr zu Mittag. Nun sah ich auch die beiden Töchter, von denen die älteste erwachsen, die jüngste heranwachsend ist. Außerdem waren zwei Damen aus Deutschland da, Verwandte der Familie, denen man es ansah, daß sie sich in dem Hause wohl fühlten. Bald war die fröhlichste Unterhaltung im Gange. Die älteste Tochter, eine zarte Blondine, nimmt als echtes Kind ihres Vaters lebhaften Theil an allen politischen Fragen der Zeit. Sie erzählte mit strahlenden Augen, dem Vater sei vor Kurzem ein Aufsatz in einem deutschen Journale zugeschickt worden, welcher sage, mehrere Freunde Ruge’s wünschten seine Rückkehr nach Deutschland. Sie ließ es sich nicht nehmen, das Journal, den „Courier an der Weser“, herbeizuholen, damit wir selbst die ehrenvolle Erwähnung ihres Vaters lesen sollten. Obgleich sie mit ihrem Eifer geneckt wurde, so sah man doch deutlich, wie sehr sich Alle schon über dieses geringe Zeugniß freuten, daß Ruge in Deutschland noch nicht vergessen sei. Ganz ungesucht leitete dieser Vorfall ein Gespräch über Politik ein, das natürlich nicht umhin konnte, sich namentlich über Deutschland und die italienischen Verhältnisse, Napoleon und Garibaldi zu verbreiten. – Auch die Toaste kamen in der Ordnung der Festtafelfreuden an die Reihe und ließen jeder Ehre und jedem Andenken das verdiente Glas erklingen, zuletzt noch für die abwesenden Glieder der Familie, die beiden Söhne Ruge’s; der älteste hat sich vor Kurzem als praktischer Arzt in Berlin niedergelassen, der jüngste vollendet soeben seine Studien in Zürich. Zwei Stunden waren am fröhlichen Tische pfeilgeschwind vergangen, man erhob sich zu einen Spaziergang an die See. Ein fortlaufendes Gespräch kam hier nicht in Gang, dazu bot sich den Augen zu viel reicher Wechsel der Gegenstände dar. Dafür warf Ruge manche gelegentliche Bemerkungen hin, von denen die folgende Anekdote seine stets bereite Schlagfertigkeit bezeichnet. Einmal ist Ruge mit einem Halle’schen Professor in Streit gerathen, der Wortwechsel ist ziemlich lebhaft geworden, und Ruge’s Gegner vergißt sich zu dem Vorwurf: „Ihr Latein ist das eines Pferdedoctors!“ – „Ich glaube es selbst,“ blitzt Ruge ihm entgegen, „sonst hätte ich Sie nicht in die Cur genommen!“ Und böse ward der Professor von derselbigen Stunde.

Es ist eine alte Klage, daß aus Deutschland nicht blos seine edeln Söhne, sondern auch viele schlechte Subjecte nach England kommen, und das hat auch Ruge oft zu seinem Schaden erfahren. Er wird viel von hülfsbedürftigen Deutschen in Anspruch genommen, und wie oft auch schon betrogen, kann er sich doch das Helfen nicht abgewöhnen, wo er Noth sieht, wäre es auch nur vorgebliche. Und doch hat sein Glaube an die Ehrlichkeit der Menschen harte Proben zu bestehen gehabt. Entwendeten ihm doch einst zwei deutsche Besucher von seinem Schreibtische zwei Briefe, und der eine dieser Herren hatte sogar die Bollmann’sche Stirn, diese Briefe später im Druck zu erwähnen.

Von unserem Spaziergange zurückgekehrt, nahm Ruge uns mit in sein Zimmer und las auf unser Bitten uns Einiges aus seinen „Jugenderinnerungen“ vor, deren Ausarbeitung, wie er uns sagte, damals seine freie Zeit vollständig in Anspruch nahm. Er bot uns in der That einen hohen Genuß, besonders durch die frischen und lebendigen Schilderungen seiner Heimathinsel. Die ergötzlichen Einfälle des Knaben zeigten schon im Keim den unverwüstlichen Humor des Mannes. Unser schallendes Gelächter unterbrach mehr als einmal den Vorleser. Ich glaube, Ruge hat in Erinnerung an das glückliche Elternhaus seine eigene Häuslichkeit mit vieler persönlicher Liebenswürdigkeit so angenehm gestaltet. Um tiefer eingehende Beobachtungen zu machen, habe ich zu wenig Stunden mit ihm verlebt, aber darin fand ich bestätigt, was mir Henz sagte: Ruge gewähre die Freiheit, welche er verkündige, seiner Familie vollständig. Bei der Erziehung seiner Kinder, lasse er den Grundsatz walten, Jedes müsse seine Individualität so frei als möglich entwickeln und das Beispiel der Eltern die Hauptsache dazu thun. Und ganz in seinem Geiste schalte und walte seine Gattin frei im Hause zu seinem und der Kinder Wohl.

Wir folgten mit so viel Theilnahme Ruge’s Lesen, daß wir gern den Thee entbehrt hätten, um noch mehr zu hören. Aber unten im Eßzimmer wurden schon muntere Stimmen laut und bald riefen sie uns auch dahin. Eine gewählte Gesellschaft von Deutschen und Engländern war dort schon versammelt. Die Theezeit wurde jedoch verkürzt, und wir begaben uns nun in das Drawing-room. Nach englischer Sitte grenzt an dieses ein kleineres Zimmer, back-drawing-room, und hier war die eigentliche Feier des Tages vorbereitet. Die Damen des Hauses stellten hier mit Hülfe ihrer Freunde Bilder, wozu die Motive alle aus Ruge’s Werken genommen waren. Nachdem jedes Bild einige Augenblicke gestanden, fiel nicht, wie gewöhnlich, der Vorhang, sondern es belebte sich das Bild und eine Scene wurde aufgeführt, in der Ruge gar bald sich selbst und seine eigenen Worte heraushörte. Zuletzt erschienen Ruge’s Töchter und Nichte als Britannia, Germania und Insel Rügen in schöner Gruppe vereinigt und brachten ihm mit herzlichen Wünschen für sein Wohl einen Kranz. Er war sichtlich gerührt durch die so wohlgelungene Ueberraschung. Seine Nichte, eine interessante Brünette mit dunkeln Augen, hatte als Germania die von Frau Ruge gedichteten Verse mit viel dramatischer Befähigung gesprochen, Ruge war darin Germania’s Sohn genannt, und er neckte nun seine Nichte, daß sie ihm eine so schlechte Mama gewesen. Sie vertheidigte Germania, aber er warf ihr scherzend vor, daß sie ihre Rolle ganz unrechtmäßig erhalten, da Germania blond und blauäugig sein müsse. Unter diesen und ähnlichen frohen Scherzen verging das „Supper“ den älteren Gliedern der Gesellschaft zu schnell, den jüngeren zu langsam. Bei diesen hatte die Frage, wer wohl Tänze spielen könne, schon allerhand glückliche Vermuthungen hervorgerufen. Als wir in das Drawing-room zurückkehrten, war dies wirklich so viel

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