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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


„Fassen Sie sich, Herr Graf,“ fuhr der Arzt fort. „Meiner Sache bin ich sicher, und wenn hier nicht ein großes Unglück geschehen ist, das ich mir freilich kaum zu erklären vermöchte, so ist ein entsetzliches Verbrechen verübt, das unter allen Umständen an das Tageslicht gezogen werden muß. Darüber müssen wir vorher, ehe den Gerichten die Anzeige gemacht wird, mit Ruhe und Klarheit sprechen. Darf ich bitten, mir einige Fragen zu beantworten? Die Krankheitsgeschichte haben Sie mir mitgetheilt. Welche Personen waren seit vorgestern um die Verstorbene? Besonders seit dem gestrigen Abende und an dem heutigen Tage?“

„Die Erzieherin.“

„Immer?“

„Ununterbrochen.“

„Sie allein?“

„Sie meist allein, wenn nicht auch die Kammerfrau da war.“

„Hm – und diese Erzieherin –?“

Der Arzt war in Verlegenheit. Er konnte keine Worte finden, die das ausdrücken sollten, was er sagen wollte, oder er hatte nicht den Muth sie auszusprechen.

„Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?“ sagte auf einmal der Graf.

Er sprach in einem auffallend anderen Tone und schien plötzlich irgend einen Entschluß gefaßt zu haben.

„Wohin?“ fragte der Arzt.

„Darf ich bitten?“

Sie verließen das Cabinet, und ich war wieder in der peinlichsten Einsamkeit. War ich vorhin mit jedem Momente ruhiger geworden, jetzt steigerte sich von Minute zu Minute eine Angst, für die ich keinen Namen, keine Beschreibung habe. Ich war über eine Stunde allein. Niemand kam zu mir. Ich hörte keinen Schritt und keine Stimme. Nur einmal hatte ich wieder einen Reiter schnell vom Schloßhofe fortsprengen gehört. Es war später Abend geworden.

Endlich kam aus dem Cabinet des Grafen durch die geheime Tapetenthür Jemand zu mir. Es war der Kammerdiener des Grafen, ein alter Mann, den ich schon früher gesehen hatte, der schon der Kammerdiener und zwar der vertraute Diener des verstorbenen Vaters gewesen war. Der Graf schickte ihn. Der Herr Graf könne selbst unmöglich zu mir kommen. Er lasse mich bitten, ihm, dem Diener, in ein anderes Gemach zu folgen, in welchem ich ebenfalls völlig sicher und ungestört sei, und in welchem zudem Alles zu meiner Ruhe und Bequemlichkeit bereit stehe. Morgen früh werde der Herr Graf zu mir kommen. Ich folgte dem Diener. Er führte mich durch mehrere einsame Corridore in einen entfernten, abgelegenen Theil des weitläufigen Schlosses. Zwei Zimmer waren dort gastlich und bequem für mich eingerichtet. Ein Abendessen stand bereit.

„Ich komme zurück, um abzutragen,“ sagte der Diener.

Aber ich hatte vor allen Dingen Fragen an ihn. Er war auch noch der Vertraute des Hauses und wußte Alles, was im Schlosse geschah. Er wußte auch jetzt Alles, denn er sah tief gedrückt aus. Schmerz, Angst und Sorge drohten ihn zu erdrücken.

„Wo ist der Graf?“ fragte ich ihn.

„In dem Sterbezimmer.“

„Allein?“

„Der Arzt ist bei ihm.“

„Sonst Niemand?“

„Die alte Kammerfrau der hochseligen Gräfin.“

„Und die Gouvernante?“

„Sie ist nicht da.“

„Der Graf erzählte mir von ihrer treuen Pflege der Verstorbenen.“

„Ja.“

„Und sie ist nicht da?“

„Nein.“

„Sie ist wohl zu sehr angegriffen?“

„Es ist möglich.“

Ich hatte noch Fragen genug. Nach Ida, wo sie sei? ob sie allein sei? Nach der Verstorbenen, nach dem Grafen, dem Arzte. Aber ich mußte gegenüber dem einsylbigen Manne schweigen, um namentlich nicht mich und das unglückliche Mädchen zu verrathen. Er ließ mich allein. Ich konnte nicht essen, nicht trinken, nicht ruhen. Nach einer halben Stunde kam er wieder. Ich war auch unterdeß allein, es war um mich her still geblieben.

„Sie haben nichts angerührt?“ sagte er.

„Wie konnte ich, alter Friedrich?“

„Ja, es ist ein schweres Unglück. Eine so junge Dame! Und so –“ Er brach ab. Aber er war weniger einsylbig, als vorhin.

„Woran ist die Gräfin gestorben?“ fragte ich ihn.

Er wollte antworten. Aber es war, als wenn ein plötzliches Entsetzen ihm die Lippen verschließe.

„Es ist hier ein Geheimniß, Friedrich?“

Er nickte mit dem Kopfe.

„Ein schreckliches?“

„Ja.“

In dem Augenblicke hörte man einen Wagen fahren. Wo, konnte ich nicht unterscheiden. Die Zimmer, in die der alte Diener mich geführt hatte, lagen nicht nach dem Schloßhofe hin; ich wußte selbst noch nicht, nach welcher Seite. Der Diener horchte.

„Da kommt Jemand?“ fragte ich ihn.

„Ja.“

„Besuch?“

„Das Gericht,“ preßte er, vielleicht unwillkürlich, hervor.

„Wie, Friedrich?“

„Ja, Herr –“

„Wegen des Todes der Gräfin?“

Aber er hatte sich besonnen. „Fragen Sie mich nicht. Sie werden zwar morgen Alles erfahren – aber – nein, nein!“ Er entfernte sich schnell. „Gute Nacht!“ sagte er noch.

Ich verlebte die schrecklichste Nacht meines Lebens.


(Fortsetzung folgt.)


Die Krone Deutschlands im Staube.

Es war ein trüber Novembertag des Jahres 1076, als aus den Thoren der glänzenden Reichs- und Krönungsstadt Speyer ein stiller Mann zog, begleitet von Weib und Kind und nur einem treuen Freund, dem just auch nicht die Freude auf dem Gesichte lag. Still und fast heimlich zogen die trüben Leute hin durch die deutschen Gauen, über die Schweizer Grenze, hinauf zu den schwindelnden Steigen des St. Gotthard, gefolgt von Spähern und Feinden, die nichts Gutes im Sinne hatten. Der Winter hatte alle seine Schrecknisse über die Alpenwelt ausgebreitet, kaum der Waidmann beschritt zur verwegenen Lust die Höhen, und hier theilte ein zartes Weib, ein Kind sogar die unsäglichen Beschwerden der Alpenfahrt in heiliger Weihnachtszeit. Oft waren die Männer genöthigt auf allen Vieren die Tod drohenden Pfade dahinzukriechen, oft mußten Weib und Kind auf Ochsenhäuten über die Eisflächen geschleift werden, um die ungeheuere Mühsal zu bestehen. Es war eine Fahrt, wie sie in dieser Jahreszeit kaum dem geringsten Knechte zugemuthet wird, und doch war der stille gramgebeugte Mann, der Allen voranzog, das höchste Haupt der Christenheit, ja der Welt, der unglückliche Kaiser Heinrich IV., und das arme Weib seine edle Gemahlin, die treue Bertha mit dem einzigen Kaisersöhnlein Konrad. Ein einziger Ritter von den Tausenden, denen sonst der Kaiser gebot, war sein Begleiter, und es ist rührendschön von dem guten alten Schwaben-Chronisten Crusius, daß er behauptet, dieser einzig getreue Ritter sei Friedrich von Büren gewesen, der Stammvater der Hohenstaufen.

Wenige Wochen später, am 25. Januar 1077, sehen wir den kaiserlichen Pilger, getrennt von den Seinen, allein und waffenlos, vor dem Felsenschloß Canossa auf Einlaß harren. – Den Kaiser drückt der Bann der Kirche, und im Schlosse weilt der Papst, das Oberhaupt der Religion der Liebe.

Eine Scene folgt nun, die noch jetzt jedes deutsche Herz vor Scham und Grimm erbeben macht. Das Thor von Canossa öffnet


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_244.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)