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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

zehn Jahren zählte diese schon über 100 pflegende und gepflegte Personen.

Das Jahr 1848 mit seinen Regungen auf staatlichem, kirchlichem und socialem Gebiete eröffnete auch Wernern ein weiteres Feld; er erkannte, daß die Industrie, die Theilung und doch wieder die Gemeinsamkeit der Arbeit, statt die Kluft zwischen Capital und Arbeit, zwischen Herrn und Arbeiter immer mehr zu erweitern, und statt, wie vielfach behauptet wird, Sittenlosigkeit und Elend zu verbreiten, ganz besonders geeignet sei, auf dem Boden christlicher Liebe, Hingebung und Opferfähigkeit einer großen Anzahl der verschiedensten Kräfte nicht blos das geeignete Feld für ihre Thätigkeit und die Mittel zu einem genügenden Dasein zu geben, sondern noch weiter die Mittel zu schaffen, das Werk der Liebe immer mehr auszubreiten.

Werner spricht dies in einem seiner „Sendbriefe“ (als Handschrift für die Brüder gedruckte Mittheilungen, welche in Zwischenräumen von 6–8 Wochen seit etwa acht Jahren, so weit das persönliche Erscheinen Werner’s dies nicht thut, den Verkehr zwischen den Gliedern vermitteln) mit folgenden Worten aus: „Ich lernte die Kräfte kennen, welche im Menschen, namentlich im Weibe, für die Ausübung der Nächstenliebe verborgen liegen, ein reiches Pfund, was die katholische Kirche trefflich zu nützen weiß, während es die unsere fast ganz brach liegen läßt. Es wurde ihm klar, welch’ richtiger Gedanke der Stiftung von Klöstern zu Grunde liege, und daß unsere Kirche ähnliche ihrem Geiste entsprechende Anstalten zur Belebung und Bethätigung ihrer Grundsätze erhalten müsse. Um den Liebesdienst an den Armen recht besorgen zu können, so daß der Nächste geliebt wird wie wir selbst, müssen Personen ihn verwalten, die sich ihm mit ungeteilter Hingabe widmen. Diese Hingabe muß in voller Freiheit geschehen und bleiben, fern vom Zwange der katholischen Klöster, und muß stets zum Hauptgegenstand ihrer Thätigkeit Nutzleistungen für das Wohl der Menschen haben. Hierdurch werden die Gefahren abgewendet, die dem klösterlichen Berufe drohen, und Brennpunkte gebildet, in welchen das heilige Feuer geweckt und erhalten wird. In solchen Anstalten muß der Levitenstamm des alten Bundes, der kein Land besaß und des Herrn Eigenthum war, und dessen Dienst wieder dargestellt werden, dieses Salz und dieser Sauerteig des Volkes Gottes. Für diesen Dienst ist hauptsächlich das Weib berufen, das in der protestantischen Kirche seine volle Geltung noch nicht errungen hat und so oft müßig und verachtet am Markte steht. Ich sah im Geiste, welch großes Heil die Verwirklichung dieser Gedanken der Menschheit schaffen würde, und daß es nichts Anderes bedürfe, als daß das Wort Fleisch (die Wahrheit der Liebe Wirklichkeit) werde, um seine Herrlichkeit seine erlösende, heilende und beseligende Kraft zu schauen.“ –

Werner zögerte nicht, den Gedanken zur That zu machen; an Pfingsten 1850 kaufte er eine in Gant gerathene Papierfabrik um 40,000 Gulden. Es war ein kühner Schritt, in den Augen Vieler wohl eine Thorheit, da Werner keine Kenntniß von der Fabrication hatte, die Mittel zum Kaufe entlehnen und wohl noch ebenso viel auf die Herstellung verwenden mußte.

Er hat es, wenn auch mit Sorgen und Mühen, durchgefochten, und jetzt hat er, weil die Reutlinger Fabrik manche Nachtheile nicht bewältigen konnte, in Dettingen eine neue Papierfabrik gebaut. Der Bau ist 307 Fuß lang, 50 Fuß breit, drei Stock hoch, massiv, mit einem einstöckigen Hintergebäude von gleicher Länge und 46 Fuß Breite; der Betrieb ist auf 24 Holländer und 2 Papiermaschinen berechnet, von den ersteren sind acht, von den letzteren eine bereits im Gange; bis nächsten Sommer wird das Ganze vollendet sein. Die Thatsache einerseits, daß beinahe sämmtliche Maschinen aus der Werkstätte des Bruderhauses hervorgegangen, andererseits daß Werner, als er nach Dettingen ging, um mit dem Gemeinderathe über den Bau zu unterhandeln, kaum so viel Geld hatte, um die Zeche im Wirthshause zu bezahlen, während das Unternehmen einen Aufwand von über 200,000 Gulden erforderte, lassen der Thatkraft des Mannes und seiner Mitarbeiter, so wie der Lebensfähigkeit der Gemeinschaft überhaupt, verbunden mit einem unbesiegbaren Gottvertrauen, alle Anerkennung und Bewunderung zollen.

Der Bau dieser Fabrik kann als ein Abschluß der Thätigkeit Werner’s auf diesem Gebiete betrachtet werden, der, wenn er nicht blos äußerlich fertig, sondern auch mit seinem Betrieb und den dazu nöthigen Arbeitskräften als wesentliches Glied in die große Familien-Gemeinschaft sich einordnet und neben der Arbeit, Zucht und Ordnung für die einzelnen Glieder dem. Ganzen die Mittel zu immer freudigerem Gedeihen liefert, den Werth und die Bedeutung vollständig verdient, die Werner selbst unter den vielen Sorgen und Mühen während des Baues und jetzt, nachdem er vollendet, auf denselben legte und noch legt.

Für die Entwicklung des älteren Gebietes der landwirthschaftlichen Thätigkeit waren die Zeiten in den ersten Jahren des verflossenen Jahrzehntes besonders günstig. In dem gesegneten Schwaben nämlich traten, nachdem das Jahr 1849 so viel begraben, auch in der Natur Stillstand und Rückschritt ein; Wein, Obst und Kartoffeln geriethen nicht, Getreide nur mäßig, das Holz hatte keinen Werth mehr; die Noth stieg in manchen Gegenden des Landes, namentlich Waldgegenden, auf große Höhe; es konnte nicht fehlen, daß an Werner neben der allgemeinen noch manche besondere Aufforderung kam. Von vielen nur ein Beispiel. In Fluorn[WS 1], einem Dorfe des Schwarzwaldes, das noch außerdem mehrfach durch Hagelschaden heimgesucht worden war, wurde ein Dritttheil der Bürger vergantet; 70 Kinder sollte die Gemeinde, resp. die übrigen Glieder, die selbst nichts übrig hatten, unterhalten.

Werner brachte zunächst 20 von den Kindern bei sich und anderwärts unter; er kaufte sodann im Orte eine Mühle mit 40 Morgen Landes und verpflanzte auf dieselbe weitere 40 Kinder. Von der Mühe und der Noth, die anfangs auf dieser Ansiedlung herrschte, ließe sich ein langes Capitel erzählen, in seiner Weise so ansprechend und belehrend, als die Geschichte einer Ansiedlung im Urwald oder auf einer Insel. Jetzt besitzt diese Anstalt 300 Morgen Feld und ist in blühendem Zustande. Solcher Anfang hatte Nachfolge; billige Güterpreise auf der einen, die Noth auf der anderen Seite boten da und dort Gelegenheit und Anlaß; nicht selten gab ein bäuerliches Ehepaar, das Wernern anhänglich, Haus und Hof und seine Kräfte her zur Erziehung armer Kinder; mit einigen Kindern wird angefangen, im Laufe der Jahre wird eine Anstalt mit 60 Gliedern und eigener Schule daraus.

Hier wird in einem leer stehenden Schlößchen eine Filetstickerei eingerichtet, dort eine Ziegelei gekauft, und eine Erziehung für geistesschwache Knaben damit verbunden; bald ist es ein Wirthshaus, bald eine unbenutzte Wasserkraft, dann eine zu Grunde gegangene chemische Fabrik, die Werner erwirbt. Ueberall richtet er mit merkwürdigem Scharfblick dasjenige ein, was nach den Verhältnissen paßt; es sind, wie schon oben bemerkt, 22 Zweiganstalten, die alle, die eine mehr, die andere weniger, in gedeihlichem Fortgange sich befinden.

Fragt man nun nach dem Grund und Wesen der inneren Einrichtung dieser Gemeinschaft, so ist es eine große Familie; Werner und seine Frau sind Vater und Mutter, die anderen Kinder (eigene Kinder hat Werner nicht), große und kleine Geschwister. Keines erwirbt für sich, sondern nur für das Ganze, von dem Jedes empfängt, was es für des Lebens Nahrung und Nothdurft braucht. Man darf hierbei nicht an eine alle Verhältnisse mißachtende Gleichmacherei denken, die Unterschiede der einzelnen Glieder in der Gesellschaft finden vollständig ihr Recht. Werner steht in dieser Familien-Gemeinschaft nicht allein, es sind ihm unter seinen Kindern tüchtige Mitarbeiter und Arbeiterinnen geworden, die theilweise in Reutlingen mit ihm, hauptsächlich aber als Vorstände der verschiedenen Zweiganstalten wirken; sie bilden einen Rath der Aeltesten, hervorgegangen aus der Wahl der Hausgenossen, der mit Werner die Aufsicht und Leitung des Ganzen besorgt und monatlich einmal sich versammelt.

So weit Glieder eintreten, die Vermögen mitbringen, wird ihnen dieses gut geschrieben und bleibt ihnen, resp. ihren Kindern, vorbehalten; was sie erwerben, gehört der Gemeinschaft, die sie dagegen in gesunden und kranken Tagen vollständig versorgt. Wer ein Gewerbe hat, treibt dies fort; müßig gehen darf Niemand.

Der Austritt steht jederzeit frei, natürlich ohne Anspruch an das Vermögen der Gemeinschaft.

Der Grundgedanke einer Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungs-Anstalt ist noch jetzt maßgebend; es sind nicht blos Waisen, die überall her, auch über die Grenzen von Württemberg hinaus, zu ihm kommen, sondern auch Manches, an dem die Zucht der

eigenen Familie vergeblich gewesen, wird Wernern zugewiesen; er

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fluern
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_238.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)