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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Der Reiseprediger Gustav Werner.

Von Th. Georgii.

Am Fuße der Achalm, eines der schönsten Berge der schwäbischen Alp, lagert sich die ehemalige Reichsstadt Reutlingen, umgeben von Obstgärten und Weinbergen; die letzteren haben in Folge sorgfältiger Pflege den alten Ruf des Reutlinger Weins, von dem Prinz Eugenius der edle Ritter sagte:

Lieber nähm’ ich Belgrad nochmalen ein.
Als mehr zu trinken von solch’ saurem Wein!

in neuerer Zeit glänzend widerlegt.

Die Werner’sche Anstalt bei Reutlingen.
A. Neues Wohnhaus. b. Küche. c. Aelteres Wohnhaus. d. Oekonomiegebäude. e. Papierfabrik, k. Mechanische Werkstätte und Schreinerei
g. Magazin. h. Gießerei, i. Wagnerei.

Am südwestlichen Ende der Stadt, hinter einem Reste alter Stadtmauern, über einen Wassergraben hinüber führt ein schmaler Steg zu fabrikartigen Gebäuden mit einigen Wohnhäusern, deren eines groß und geräumig, neu aus Backsteinen erbaut, über seinem Eingange die Inschrift „Gotteshülfe“ trägt; ihm gegenüber steht bescheiden das „Mutterhaus“; an der Fabrik liest man „Papierfabrik zum Bruderhaus“. An diese hat sich eine Maschinenwerkstätte mit Eisengießerei, Schreinerei und Wagnerei angeschlossen, im Mutterhause ist eine Schneider-, Schuster- und Buchbinder-Werkstätte eingerichtet; drunten am Flusse steht eine Gerberei und eine Mühle. Ställe mit stattlichen Reihen wohlgenährter Kühe, verschiedene Scheunen schließen das Ganze, das auf einen thätigen Besitzer hinweist, der Landwirthschaft und Gewerbe glücklich vereinigt. Deuten schon die Inschriften der Gebäude darauf hin, daß dies ein Gutsbesitzer und Fabrikherr eigener Art sein muß, so wird man darin bestärkt durch die große Anzahl von Kindern, die auf dem Hofe, in den Wohnräumen spielend, lernend, arbeitend, in allen Altersstufen dem Besucher begegnen.

Wir befinden uns in der Werner’schen Anstalt, wie sie in Reutlingen kurzweg genannt wird. Es ist dies eine große Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungsanstalt zugleich, gegründet von einem Manne und unter seiner Leitung fortgeführt von einer Brüdergemeinschaft, wie sie, auch die Wirksamkeit des bekannten Rauhen Hauses nicht ausgenommen, in gleich großartiger Thätigkeit zum zweiten Male in Deutschland nicht existirt. In Reutlingen selbst gehören hierzu der frühere Gasthof zur Krone, in dessen unterem Stocke das Verkaufslocal der verschiedenen Erzeugnisse, im oberen der Versammlungssaal und Wohnungen sich befinden; einige hundert Schritte weiter ein großes Haus, der erste Anfang und erstes Besitzthum Werner’s in Reutlingen, in dem jetzt eine Bandweberei betrieben wird und gleichfalls Wohnungen für die zahlreichen Familienglieder sich befinden, die in Reutlingen sich auf circa 600 belaufen. Ueber das ganze Land hat der Reutlinger Stamm seine Zweige gebreitet, über 20 Zweiganstalten gehören zur Gemeinschaft, die jetzt gegen 1500 Mitglieder, etwa 600 Erwachsene und 900 Zöglinge, von 2–20 Jahren, zählen wird, einen Grundbesitz von mehr als 2000 Morgen hat, und mit Gebäuden, Fabriken und Inventar ein Vermögen von über einer Million Gulden besitzen mag, von dem freilich Schulden in sehr bedeutendem Betrage abgehen.

Der Mann nun, welcher den Grund zu all’ Diesem gelegt, das Werk von kleinen Anfängen weiter geführt hat und noch jetzt der Mittelpunkt und die Seele des Ganzen ist, heißt Gustav Werner, ist geboren am 12. März 1809, seines Standes ein württembergischer Theologe. Er stammt aus einer angesehenen Beamtenfamilie, sein Vater starb als Director eines Collegiums,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_236.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2023)