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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Und von Viertelstunde zu Viertelstunde nimmt das Tageslicht mehr ab; obgleich der Anbruch des Abends noch fern ist, fällt der Schnee dichter, zieht die Luft stärker, bis endlich der Wind sich zu einem brausenden Sturm verwandelt, der Schnee in wirbelnden Massen die nur noch mühsam vorwärts eilenden Wanderer umtobt, ihnen das Sehen fast unmöglich macht und die ängstlich arbeitenden Hunde mit ihren Schlitten zu begraben droht; eine Richtung festzuhalten ist nicht mehr möglich, die Luft scheint in einem einzigen, sinnebetäubenden Schneewirbel zu bestehen, die Kräfte ermatten in diesem fortwährenden Kampfe gegen die wildgewordenen Elemente, der trotzdem nur noch schrittweise ein Vorrücken ermöglicht – und dennoch liegt in einem ungeschwächten Vorwärts die einzige Aussicht auf Rettung; ein Schneesturm währt in ungeschwächter Kraft oft tagelang. Da hält der Indianer plötzlich seinen Gang an. „Ich weiß keine Richtung mehr!“ ruft er mit Anstrengung seinem kaum der Sinne noch mächtigen Begleiter zu; „die Hunde allein vermögen noch einen Weg zu finden; schlingt eine Leine an den Schlitten und dann mit ihnen!“ Der Weiße hat mehr errathen, als gehört, um was es sich handelt, und fast nur instinctmäßig folgt er dem Rathe; kaum findet sich aber der vorderste Leithund sich selbst überlassen, als er dem Sturm den Rücken dreht und so rasch, als es das Toben um ihn her gestattet, kräftig von seinen Nachfolgern unterstützt, mit dem Schlitten davon trabt; ihm nach eilt das andere Gespann, und von dem rückwärts stehenden Winde getrieben, folgen die Postläufer an der gefaßten Leine; ein eigenes Urtheil ist ihnen nicht mehr möglich, nur mechanisch thun die Beine ihre Schuldigkeit, Hören und Sehen hat in dem Brausen und den Schneewirbeln um sie her ein Ende genommen; aber sie fühlen nach langer Weile endlich, wie der Boden unter ihren Füßen Hindernisse bietet, sie fühlen an der Leine in ihrer Hand, wie der Schlitten Sprünge macht, die nur das zähe Hickoryholz auszuhalten vermag, und erkennen, daß sie sich auf dem gebrochenen, zu Klippen neu vereinigten Eise in der Ufernähe befinden müssen; die neuerwachte Hoffnung giebt ihnen neue Kraft, den Schwierigkeiten ihres Weges Rechenschaft zu tragen; noch sehen die geblendeten Augen nichts als halbdunkele Nacht um sich – da hält plötzlich der Schlitten, und zu gleicher Zeit scheint der Sturm in ihrer unmittelbaren Nähe nachzulassen. Nur mühsam aber und erst nach geraumer Weile nehmen die Augen die äußern Eindrücke wieder auf; vor sich erkennen sie endlich ein vom Sturme gepeitschtes Fichtengebüsch, in dessen Schutze die Hunde schnaufend, mit heraushängenden Zungen liegen, und die Männer wissen, daß ihr Leben für den Augenblick gerettet ist. Die treuen Thiere werden mit dem letzten Reste der Kraft ausgeschirrt, die Schlitten unter das dichte Nadeldach geschoben, und dann folgt eine Zeit der nothwendigsten Rast. Aber wie auch die Erschöpfung fast unbesieglich zum Schlafe drängt, sie muß überwunden werden, wenn nicht auf’s Neue der Tod mit sicherer Hand nach seinen kaum entronnenen Opfern greifen soll. Ein kleiner Raum innerhalb des Gebüsches wird von den jungen Fichtenstämmen gesäubert und mit den Zweigen derselben eine Art rings umlaufende Wand hergestellt, sowie ein dichtes Lager auf dem beschneiten Boden gebildet. Ein Feuer anzuzünden ist bei diesem Sturme unmöglich, und so werden die Hunde in das wohlverwahrte Versteck gerufen, um das Lager der Männer zu theilen und zur allgemeinen Erwärmung beizutragen. Bald beginnt es in dem geschützten, vom Sturme umtosten Raume behaglich zu werden, und Mensch wie Thier überläßt sich der nothwendigen Ruhe.

Aber fast drei Tage hat der Sturm gewährt, die Lebensmittel sind zum größten Theile aufgezehrt, ein drei Fuß tiefes Loch hat in das Eis des Sees gehauen werden müssen, um das nothwendige Wasser zu erlangen, ehe das sich aufklärende Wetter die Weiterreise erlaubt; erst als nach langem fruchtlosem Umherstreifen sich einige wilde Kaninchen als Jagdbeute gezeigt haben und damit der eingetretene Mangel ersetzt worden ist, wird der Weitermarsch aufgenommen.

Glücklich mögen nun trotz aller Gefahr die Postläufer sein, wenn der Schneesturm sie nur in dieser einfachen Gestalt überrascht, denn fast unausweichbar tritt ihnen der Tod entgegen, sobald eine milde Luft sich als Vorbote des Sturms einstellt. Dann beginnt sich plötzlich der See gegen die ihm aufgedrungene Eisfessel zu empören. Mit donnerähnlichem, weit über die Fläche hin hörbarem Krachen beginnt das Eis an den Ufern zu bersten und das Wasser in riesigen Spring- und Sturzwellen zu Tage zu lassen, allem Lebenden, das sich nicht bei Zeiten auf das feste Land gerettet, den Weg nach dem Ufer abschneidend. Immer weiter hinaus geräth die Eisdecke in Bewegung, den drängenden Wassern weichend; erst knallend und prasselnd in einzelne gewaltige Flächen zerreißend und dann in kleinere an einander zerschellende Stücke zerbröckelnd; mit der Schnelle des Vogels scheint nach dem ersten Signalschuß ein Theil des Sees es dem andern mitzutheilen, und nach Stunden ist die bis hierher unbewegliche todte Ebene ein wildes Chaos von Sturm, empörten Wogen und prasselnd gegeneinander schmetternden Eisschollen. Hier rettet den Postläufer nur die Nähe einer der wenigen Inseln, falls er diese noch vor gänzlichem Bruch des Eises erreichen kann; aber selbst wenn er das nackte Leben gerettet, ist er oft nicht im Stande, es sich auf dem unwirthlichen kleinen, oft von keinem lebenden Wesen bewohnten Terrain zu erhalten. Indessen gehen dem eintretenden Thauwetter stets so untrügliche Anzeichen voraus, daß der Indianer sich nie darin irren kann und fast stets noch Zeit behält, dem drohenden Untergange auszuweichen.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.[1]
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 5.
Das Insect und seine Beschaffenheit – Seine Entwickelung – Die Larven und Puppen – Die Verwandelung – Die Insecteneier: wie und wohin sie gelegt werden.

Meine Herren!

Ein ungeheueres, meist geflügeltes Heer, dessen wechselnde Lebenszustände gewissermaßen beständig mit dem Herrn der Schöpfung im Kriege leben, soll uns in dieser und den folgenden Vorlesungen beschäftigen. Meist verhältnißmäßig klein und unscheinbar werden sie uns nicht sowohl als Individuen, denn als Massen gefährlich, und liefern eine neue Bestätigung des Satzes, daß der Einfluß der Thiere auf die tellurischen sowohl, wie auf die ökonomischen Verhältnisse der Erdoberfläche im Allgemeinen um so größer ist, je kleiner die Art selbst. Die mikroskopischen Infusionstierchen, die winzigen Wurzelfüßer, die unscheinbaren Polypen haben ganze Berge aufgebaut, während die gewaltigen Elephanten und Nashörner nur einige Knochen hinterlassen haben. Ganz so verhält es sich hier. Der Wildschaden, den Eber und Hirsche veranlassen, steht durchaus in keinem Verhältnisse zu den ungeheueren Verheerungen, welche Raupen, Fliegenmaden, Heuschrecken und ähnliches unscheinbares Gewürm dem Menschen zufügen können.

Unter Insecten verstehen wir heutzutage Gliederthiere mit drei wohlgesonderten Hauptabschnitten des Körpers: Kopf, Brust und Hinterleib, von denen jeder wieder aus mehreren Ringen zusammengesetzt ist und ganz besondere Functionen zeigt. Der Kopf trägt unter allen Umständen, bei dem ausgebildeten Insecte wenigstens, ein Paar Fühlhörner von mannigfaltiger Form und Größe, welche sowohl zum Tasten, als auch zum Riechen und vielleicht selbst zum Hören geeignet sind. Ferner finden sich am Kopfe die gewöhnlich zusammengesetzten Augen, die nur wenig ausgebildeten Insecten, wohl aber vielen Larven fehlen, und zu welchen sich häufig noch einzelne Punktaugen gesellen. Endlich sind an der Unterseite des Kopfes die in außerordentlicher Mannigfaltigkeit gestalteten Mundwerkzeuge aufgehängt, deren wir noch weiter zu gedenken haben werden.

Die Brust trägt die Bewegungswerkzeuge: auf der oberen Fläche ein oder zwei Paar Flügel, die auf den beiden hintern Brustringen befestigt sind; auf der unteren Fläche drei Paar Füße, nie mehr und nie weniger, deren Bau zu mannigfaltigen Unterscheidungsmerkmalen Veranlassung giebt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_230.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)