Seite:Die Gartenlaube (1862) 225.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 15.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung)


„Plötzlich höre ich,“ fuhr der alte Schiffer in seiner Erzählung fort, „über mir ein leises Weinen und Wehklagen. Sehen konnte ich nichts, die Nacht war rabenschwarz. Das leise Weinen schnitt mir um so schärfer in das Herz hinein, zumal wenn die Stimme unter dem Weinen und unter dem Schluchzen rief: „O Du gerechter, Du ewiger Gott, willst und kannst Du mich denn nicht erlösen? Wie lange, wie lange soll ich es noch mit mir herum tragen? O, sey mir gnädig, sei mir barmherzig! Gieb mir den Frieden, gieb mir die ewige Ruhe!“ – Ja, Herr, so jammerte und klagte sie, und es lief mir eiskalt über den ganzen Körper. Da, da war es, beinahe in der Mitte des Klosters, nicht weit von der Zelle der blassen Schwester Walpurgis, die Sie vorhin gesehen haben. Da stand und weinte und wehklagte die arme Schwester Marcella, und – auf einmal war aus den Gewitterwolken ein Blitz gekommen, der machte die Gegend hell, die Mauer und das Fenster, und da sah ich sie in dem Fenster stehen, die Hände gerungen, die Augen gen Himmel gerichtet, von dem Gesichte die Thränen herunterlaufend, und das Gesicht noch blässer, als das der Schwester Walpurgis, die doch wahrhaftig wie eine Leiche aussieht. Aber schön war sie, Herr, groß und schön, in allem ihrem Jammer und Elend. – Der Blitz hatte auch mich beschienen; sie hatte mich gesehen. Sie war in ihrer Zelle verschwunden. Ich hörte auch nichts mehr und fuhr nach Hause. Ich sagte keinem Menschen etwas, man hätte sie sonst in die Zelle einer älteren Nonne gethan, und sie hätte nicht mehr weinen und nicht mehr Gott ihre Noth klagen können, und das war doch Alles, was sie vom Leben hatte. Aber manche Nacht zog es mich wieder unter ihr Fenster, und wenn ich hinkam, hörte ich wieder ihr leises Weinen und Wehklagen, und ich mußte mit dem armen Geschöpfe zu Gott beten, daß er sie erlösen möge.“

Der alte Mann war weich geworden, es standen ihm Thränen in den Augen. „Ob es geschehen ist? Ob sie erlöst sein mag?“ sagte er dann. Und dann hatte mehr die Weichheit, als die Ungeduld ihm das Herz geöffnet.

„Herr,“ sagte er, „wenn Sie mich nicht verrathen wollen, und Sie werden es nicht, um der armen Schwester Marcella willen nicht – und so ein fremder Herr kommt ja überall in der Welt herum, und da könnten Sie auch von ihr etwas hören, und ich erführe es vielleicht wieder – ich sagte Ihnen vorhin, daß man von der Schwester Marcella gar keine Spur mehr gefunden habe. Sie können doch noch etwas von ihr erfahren, aber Sie dürfen es keinem Menschen verrathen; die Priorin ist streng, und die braven Leute könnten noch jetzt, nach sieben Jahren, Ungemach haben. Wenn es morgen früh hell ist, dann werden Sie da oben auf dem Berge, oberhalb des Klosters, zwischen drei großen Platanen, ein kleines, einsames Haus sehen; dahin gehen Sie, dort werden Sie eine alte Frau in dem Hause finden, welche allein da mit ihrem alten, preßhaften Manne wohnt; Frau Marthe nennen Sie sie, und bringen Sie ihr einen Gruß von mir, dem alten Siedler aus Diessenhofen, und fragen Sie sie nach der Schwester Marcella und dem verwundeten Flüchtling, und sie wird Ihnen dann Mancherlei zu erzählen wissen. Aber verrathen Sie nichts, Herr; und nun, Herr, es ist längst Mitternacht vorbei, und Sie werden sich nach Ruhe sehnen. Soll ich Sie nach Hause fahren?“

„Fahrt mich nach Hause.“

Er ruderte zum Ufer, und ich ging in meinen Gasthof. Ich mochte mich wohl nach Ruhe sehnen, aber finden konnte ich sie nicht. Die unglückliche, schöne, junge, fremde Schwester Marcella stand vor mir, und mit ihr der unglückliche, junge, verwundete und verfolgte Rebellenofficier, und wie ein Blitz fuhr es mir durch den Kopf: wer konnte es nach allen über ihn laufenden Erzählungen anders sein als – Alexander Roth? Ich mußte Gewißheit haben.

Ich verließ früh am andern Morgen Diessenhofen und ging oberhalb des Klosters den Berg hinauf. Ich sah schon von weitem da oben zwischen drei Platanen ein kleines, unscheinbares, hölzernes Haus und lenkte meine Schritte dahin. Der Berg war mit dichter Waldung bedeckt, und immer durch sie hin führte der Weg nach oben, bis zu dem kleinen Hause. Das Haus lag still, versteckt da, mitten in dem Walde; die drei Platanen ragten hoch darüber hinweg; ein kleines Gärtchen umgab es. Ich traf die alte Frau, die es bewohnte, sie war noch rüstig, sie pflegte ihren Mann, der krank im Bette lag.

„Ich komme von dem alten Siedler unten aus der Stadt. Er läßt Sie grüßen.“

Sie sah mich mißtrauisch an.

„Er läßt Ihnen sagen, Frau Marthe, Sie könnten mir Alles erzählen.“

„Was sollte ich Ihnen erzählen?“

„Von dem verwundeten badischen Officier –“

„Ich kenne keinen badischen Officier.“

„Und von der Schwester Marcella.“

„Der alte Siedler ist ein Schwätzer, der nicht weiß, was er sagt.“

„Ich komme auch von dem Officier selbst, dem Herrn Roth.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_225.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)