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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

der Ort, einzelne Momente aus seinem Weinsberger Leben hervorzuheben, nachdem wir erst einige biographische Andeutungen über ihn gegeben haben.

Andreas Justinus Christian Kerner wurde am 18. Sept. 1786 zu Ludwigsburg, das er in den „Reiseschatten“ unter dem Namen Grasburg aufführt, als der Sohn des dortigen Oberamtmanns geboren. Im Jahre 1795 zog die Familie in das alte Cisterzienserkloster zu Maulbronn, wohin der Vater als Oberamtmann versetzt wurde. Nach dem im Jahre 1799 erfolgten Tode seines Vaters zog die Familie wieder nach Ludwigsburg, und hier erhielt nun Kerner regelmäßigern Schulunterricht; besonders nahm der dortige Diakonus und Dichter Philipp Conz sich seiner an. Nach seiner Confirmation kam er in die herzogliche Tuchfabrik in Ludwigsburg, und während sein lebhafter Geist für Poesie und Naturwissenschaften glühte, sollte er Geschmack daran finden, Tuchsäcke und Musterkarten zu machen und Indigofässer auszuklopfen. Das konnte auf die Länge nicht gehen. Er wurde diesem qualvollen Zustand besonders durch Vermittelung des inzwischen nach Tübingen beförderten Conz entrissen und bezog im Herbst 1804 diese Universität, um Naturwissenschaften und Medicin zu studiren. Im Jahre 1808 erwarb er sich den Doctortitel, verließ darauf die Universität und begab sich im Jahre 1809 auf Reisen nach Hamburg, Berlin und Wien. Bald nach seiner Rückkehr ließ er sich als Badearzt in Wildbad nieder. Eine Frucht dieses Aufenthaltes ist seine 1813 erschienene Beschreibung dieses besonders in neuerer Zeit berühmt gewordenen Schwarzwaldbades. Nachdem er einige Jahre in Gaildorf als Oberamtsarzt zugebracht hatte, wurde er 1819 in gleicher Eigenschaft nach Weinsberg berufen, und damit fing die glänzende Stellung, die er im Leben einnahm, an, damit seine für ihn selbst ebensowohl ehrenvolle, als für Weinsberg rühmliche und nützliche Thätigkeit.

Als Kerner nach Weinsberg kam, war man nahe daran, die schönen Quadersteine der Burg vollends zu Weinbergmauern zu verwenden, und ein elender Weinberg wurde im Innern derselben angepflanzt. Kerner’s Verdienst ist es, der Wiederhersteller der jetzt schön hergerichteten Burgruine zu sein. Er stiftete einen Weibertreuverein, veranstaltete in allen ihm zugänglichen Kreisen Sammlungen, klopfte an mancher hohen Pforte an und kehrte mit vollem Beutel davon zurück und ließ mit diesem Geld dem weitern Einsturze des Mauerwerkes vorbeugen, Wege und Gartenanlagen herrichten und in dem nordöstlichen Thurme, auf dem man eine so prachtvolle Fernsicht hat, Aeolsharfen anbringen.

Am Fuße der Weibertreu baute sich Kerner eine hübsche Wohnung und ließ an der Hinterwand eine Art Schweizerhaus erbauen, an welchem ein großes Christusbild am Kreuze hängt mit der Ueberschrift: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ An dieses Schweizerhaus stößt ein Blumengarten mit hübscher Laube und hohen weitästigen Zierbäumen. Er ist begrenzt von der alten Stadtmauer und von dem von der Gemeinde dem Dichter geschenkten Thurme, der unter dem Namen Geisterthurm bekannt ist. In der Mitte des Thurmes befindet sich das „Geisterzimmer“, das vollständig meublirt, mit zwei lebensgroßen Mönchsstatuen versehen und mit Glasmalereien geziert ist. Es ist im heißen Sommer zur Erweckung der schlaffen Geister ein sehr angenehmer, kühler Sitz. Von da geht man an einem steinernen Zwerg vorbei auf einer hölzernen Treppe auf die Plattform des Thurmes, über welcher ein Zeltdach sich erhebt. Hier hatte Kerner, als der Griechensänger Wilhelm Müller 1827 vor seiner Reise nach Griechenland, den Tod schon im Herzen, zu ihm kam, ihm zu Ehren eine Fahne mit den griechischen Nationalfarben aufgepflanzt. Hier saß Kerner mit „edlen Polensöhnen“, aus einem Becher mit ihnen trinkend, Freiheitslieder mit ihnen singend, mit ihnen weinend und hoffend für’s verlorene Vaterland.

Gegenüber vor seinem Wohnhaus, nur durch die Straße getrennt, hatte sich Kerner einen Garten von ein paar Morgen angekauft, der hauptsächlich für Obst- und Gemüsebau verwendet wurde. In der Mitte desselben befindet sich ein Gartenhäuschen, das drei niedliche Zimmerchen enthält und in denselben schon manchen interessanten Gast beherbergt hat. Einige Wochen lang wohnte hier der polnische General Rybinski, Monate lang Nikolaus Lenau, und wie oft hörte man um Mitternacht, wenn der ermattete Arzt und Dichter an der Seite seines „Rickele“ schon behaglich schnarchte, die verzweifelten Töne der Lenau’schen Geige, sei es in einem Zigeunertanz, sei es in einer Todtenklage, wilde und wehmütige Gefühlte austobend!

Es war eine schöne Zeit für Kerner, besonders die dreißiger Jahre. Er hatte sich durch seine Kunst als Arzt und Dichter nicht blos Ruhm und Achtung verschafft, sondern nach und nach auch irdische Güter erworben und eine behagliche Existenz sich gegründet. Seine „lyrischen Gedichte“ waren bei Cotta erschienen und erlebten mehrere Auflagen, die „Seherin von Prevorst“ war 1829 ausgegeben worden (der „letzte Blüthenstrauß“ 1853, die „Winterblüthen“ 1859), es war kaum ein Dichter in ganz Deutschland, der so viel Liebe genoß, so viel Interesse einflößte, so viele Verbindungen hatte. Kerner saß in Weinsberg wie ein Fürst mit einem kleinen Hofe. Er war damals ein rüstiger Vierziger, seine nächsten Freunde alle im besten Mannesalter. Das Dichterhaus in Weinsberg war nicht blos für die Jünger der schwäbischen Schule ein Sammelplatz, sondern für Personen aller Art, vom Fürsten bis zum armen Dorfschullehrer, von der Prinzessin bis zur geisteskranken Schuhmachersfrau, ein zweites Mekka. Da kam der ritterliche Graf Alexander von Württemberg auf feurigem Rosse angesprengt, hielt Nachtrast in dem gastlichen Hause, still seufzend an des Freundes Brust über den Druck, der auf ihm lag, und ritt am frühen Morgen mit verwegenem Reitermuth auf dem nur etwa sechs Fuß breiten Kranz des Thurmes auf der Weibertreu herum. Da gingen die anderen schwäbischen Dichter ab und zu, da kehrten Freiligrath, Geibel und wie sie alle heißen, wie in einer Zunftherberge ein. Es kamen kunstsinnige Prinzen, geheimnißvolle Diplomaten, stoffbedürftige Literaten, begeisterte Studenten, Liederkränze und Turner mit ihren frischen, fröhlichen Gesängen. Ohne Zahl aber kamen die zartfühlenden Frauen, die vor allen Dichtern einen Sänger liebten, der die Frauen so hoch hielt, der mit solcher Innigkeit die zartesten Gefühle des Herzens sang, der mit so feiner Hand über kaum vernarbte Wunden hinstrich, der mit jenem Selbstbekenntniß, das an dem Thurme auf der Weibertreu angeschrieben ist, ihnen so sehr schmeichelte. Es lautet:

„Getragen hat mein Weib mich nicht,
Aber ertragen;
Das war ein schwereres Gewicht,
Als ich mag sagen.“

Wie glücklich waren diese Frauen, wenn Kerner ihnen einen alten oder neuen Vers in ihr Album schrieb, wenn er in seiner freundlichen, wohlwollenden Manier sie in seinen Gärten herumführte, wenn er Nachts bei ausgelöschten Lichtern auf der Maultrommel spielte, der er so geisterhafte Töne zu entlocken wußte! Aber nicht blos in der Blüthezeit seines Lebens, auch noch in den letzten Jahren, wo er, vom Alter schon gedrückt, nur mit Mühe gehen konnte, sah man jeden Sommer Fremde aus den verschiedensten Ländern bei ihm: aus Irland, Spanien, Italien, der Türkei, Rußland, Preußen, Oesterreich, Lübeck, Hamburg.

Das ist offenbar ein Leben, wie es Wenige haben, ein schönes, reiches, volles Leben. Aber Alles hat seine Grenzen. Im Verlauf des letzten Winters nahmen seine körperlichen und geistigen Kräfte auffallend ab, und am 21. Februar 1862 trug ihn ein schmerzloser Tod unbewußt in das ersehnte Geisterreich.

Die Beerdigung fand statt am 24. Februar Vormittags 9 Uhr. Bürger der Stadt Weinsberg, der es so viel Gutes erwiesen, die er aus einem unbedeutenden Orte zu einer Stadt von europäischem Rufe erhoben hatte, trugen seinen Sarg. Es folgte eine große Schaar Freunde, manche ruhmvolle Häupter Schwabens, aus der Nähe und Ferne.

Als im Herbst 1858 auf die Nachricht, daß die Heilbronn-Haller Eisenbahn über Weinsberg geführt werden solle, in dem für diese Bahnrichtung sehr interessirten Heilbronn ein Bankett veranstaltet und Kerner dazu eingeladen wurde, schickte er, da er der Einladung nicht Folge leisten konnte, ein Gedicht an seine Heilbronner Freunde („Winterblüthen“ S. 135), dessen letzte Strophe lautet:

„Auf Weinsbergs Friedhof hebet sich mein Grab,
Wann mit dem Dampfroß ihr vorüberflieget,
Dann ruft, ihr Lieben: „Grüß Dich Gott!“ mir zu,
„Mein Geist fliegt mit euch, nicht vom Tod besieget.“

Wilhelm Müller.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_224.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)