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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Vaterstadt Ludwigsburg confirmirt wurde, ging er, obgleich der gute Ton den armen Confirmanden einen Frack vorschrieb, trotz aller Vorstellung der Seinigen, zum Entsetzen aller frommen Seelen, im Ueberrock in die Kirche und zum Altar. Das war ein schlechtes Prognostikon für seine Kirchlichkeit, für seine Orthodoxie. Und in der That war dieses Ueberröckchen des 14jährigen „Christian“, wie man ihn zu Hause nannte, nichts weniger als gleichgültig. Es war ein Protest gegen die Form, in die man sein religiöses Bewußtsein, die Art seines Cultus einzwängen wollte, und die steife Orthodoxie sorgt bekanntlich sehr dafür, daß solche Proteste sich erneuern müssen. Ein Mann, der mit Dr. David Friedrich Strauß, dem Verfasser des Lebens Jesu, so freundlich verkehrte, der von hervorragenden Jesuiten und Mitgliedern der katholischen Missionen besucht wurde und im friedlichsten religiösen Gespräch sich mit ihnen erging, der sein Zimmer zu einer Capelle für den indischen Missionär und den schwäbischen evangelischen Reiseprediger Hebich mit seinem widerlichen Hokuspokus machte, konnte unmöglich ein gut lutherischer Orthodoxer in des Wortes verwegener Bedeutung sein. Specielle theologische Fragen und Dogmen hielt er sich ebenso sehr vom Leibe wie politische. Er wollte Freiheit in allen Gebieten des menschlichen Lebens, aber vor Allem wollte er Ruhe und Frieden, haßte jeden Streit, jede persönliche Erhitzung und bildete sich seine eigene Religion, die, wenn sie auch nichts specifisch Christliches zur Schau trug, doch auch nichts Unchristliches enthielt und die Idee der Liebe zur Grundlage hatte. „Eine Liebe hat mich entstehen lassen, eine Liebe hat mich als Kind auf den Armen getragen, hat mich durch das ganze Leben geleitet, eine Liebe wird mich auch nach diesem Leben in ihre Mutterarme nehmen.“ In diesen wenigen Sätzen concentrirt sich des Dichters religiöse Anschauung. Sie ist weit genug, um die ganze Menschheit, alle Religions- und Confessionsformen darin unterzubringen, tief genug, um den Dichter zu warmen, lebendigen Gebilden zu begeistern, weich genug, um die Frauen, die er alle so innig liebte, magnetisch anzuziehen. „Wir sehen uns wohl in diesem Leben nimmer,“ sagte ein scheidender Freund zu Kerner. – „Nun, wir werden uns ja wiedersehen,“ entgegnete dieser in scherzender Manier, „entweder Parterre oder Beletage oder im oberen Stockwerk.“ – „Wenn wir uns nur wiedersehen, gleichviel wo!“ versetzte der Freund und wollte das Zimmer verlassen. Aber Kerner hielt ihn zurück, trat vor ihn, sah ihm lange in’s Auge, sprach in wehmuthsvollem Tone leise seinen Namen und küßte ihn noch einmal.

Es lag ganz in der schwäbischen Offenheit und Herzlichkeit Kerner’s, so mit seinen Freunden zu verkehren, und mehr als als eine Frau brachte er dadurch in einige Verlegenheit. So ist ja sein Verhalten gegenüber einer hohen Dame an einem deutschen Hofe bekannt. Kerner war zu derselben auf Besuch geladen und äußerte unter anderem sein Bedauern, daß er bei seinem schwachen Augenlicht die edlen Züge der Prinzessin nicht bewundern könne. „Kommen Sie nur näher, Sie dürfen mich wohl genau ansehen.“ Kerner ging mit ihr an’s Fenster, faßte sie mit beiden Händen am Kopf und sah in ihr wirklich ausdrucksvolles Auge, in dieses reine, blendend weiße Antlitz. Die Prinzessin verwies ihm dieses seltene tête à tête nicht, aber der ganze Hof erstaunte über diesen kühnen Griff eines deutschen Dichters.

Auch eine andere Eigenthümlichkeit seines Charakters finden wir schon sehr frühe bei ihm. Varnhagen, welcher zu gleicher Zeit, im Jahre 1808, mit ihm in Tübingen studirte, ja in einem Haus mit ihm zusammenwohnte und viel in Kerner’s und Uhland’s Gesellschaft kam, schildert ihn schon damals als einen Jüngling von sonderbaren Ansichten und auffallendem Wesen, als einen Menschen, jetzt tief in sich gekehrt, sinnend und träumerisch wie ein Alpensee, dann plötzlich aufspringend, auflachend, mit den Freunden herumtanzend, bald wild dämonisch den Wahnsinn nachahmend, daß es den Freunden schaudernd durch die Nerven fährt, bald Schwänke ersinnend darstellend, daß sie sich vor Lachen den Bauch halten mußten. Und so war Kerner noch in den letzten Jahren, wenngleich die Form schon durch das Alter gemäßigter war.

Nehmen wir dazu eine andere Aeußerung Varnhagen’s aus der gleichen Zeit, wo er es an einem Jüngling unbegreiflich findet, zu meinen, „es sei so wenig Freude in der Welt, daß man nur eben etwas – gleichviel was – thun müsse, damit die Zeit verstreiche und so das ganze Leben,“ so liegt das Wesen Kerner’s in seinen Grundzügen vor uns: einerseits ein tiefes Gefühl Schwermuth, der Nichtbefriedigung bei diesen menschlichen Verhältnissen, der Sehnsucht nach der wahren Heimath des Geistes, andererseits ein übersprudelnder Humor, eine unübertreffliche Gabe der Darstellung komischer Scenen, eine feine Auffassung der Lächerlichkeit in Verhältnissen und Personen.

Um mit dem Letzten anzufangen, so sind unter seinen Schriften vor allem die „Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux, 1811“ und das „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, 1849“ zu erwähnen. Enthält auch das Erstere Manches, was vor der jetzigen Kritik nicht Stand halten kann, manches Phantastische, das eine fast übermenschliche Flugkraft voraussetzt, so enthält es doch auch Scenen, die zu den gelungensten Producten deutschen Humors gehören.

Gehen wir zu den erstgenannten Charakterzügen Kerner’s über, dem Gefühl der Schwermuth, des Schmerzes, der Nichtbefriedigung, der Sehnsucht nach höheren Zuständen, woraus alles Andere – Liebe zur Natur, zu früheren Zuständen, Geisterseherei – als aus seiner natürlichen Quelle entspringt, so ist allerdings nicht zu verkennen, daß Kerner seinen Schmerz, seine Todessehnsucht zu dick und zu oft aufträgt, jedoch beizusetzen, daß er nicht jenen Weltschmerz, jenen Kainstempel hat, der immer nur sich als vom Blitzstrahl getroffen ansieht, sondern daß er diesen Schmerzenszug in der ganzen Menschheit sieht. Aus dem Elend dieses Erdenlebens hinauszukommen, in einem höhern Geisterleben die rechte Befriedigung zu finden, ist das Thema, das in vielen Variationen besungen wird.

Daß der Dichter bei dieser Gesinnung sich um so inniger an die ewig gleiche, von ihm beseelte und vergeistige Natur anschließt, daß er, wie Uhland, das Ritterleben glücklich preisen zu können meint und, wie die edlen Ritter, der süßen Minne pflegt und all’ seine Liebe in zarte weibliche Herzen legt, vor allem in das seiner 1854 verstorbenen Gattin (vergl. die an Zartheit ihres Gleichen suchenden Gedichte „An Sie“ in den „Winterblüthen“), die, wenn sie auch glücklicherweise seinem schwärmenden Gefühl den ordnenden Verstand entgegenhielt, doch Gefühl und Poesie genug hatte, um ihn zu verstehen und mit ihm zu empfinden, und so sein Haus zum anmuthigsten, liebenswürdigsten Sitze machte – das Alles sind nur Consequenzen aus unsern obigen Prämissen.

Nicht minder hängt auch Kerner’s Geisterseherei mit diesem Grundzug seines Wesens zusammen. Wem die Erde, das Körperliche so wenig, so nichts ist, der strebt mit vollen Segeln nach dem Geistigen und sucht, zumal wenn mit so viel Phantasie begabt, das Geisterleben, zu dem er sich noch nicht emporschwingen kann, zu sich herabzuziehen. Schon Strauß in seinen „friedlichen Blättern“, 1839, sagt: „Ueberhaupt ist Kerner der Magnetiseur und Geisterfreund nur aus dem Dichter zu begreifen.“ Ohne uns übrigens in dieses mystische Halbdunkel weiter hineinzuwagen, glauben wir bei aller Achtung vor Kerner’s Streben, ein Buch mit sieben Siegeln öffnen zu wollen, die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen, daß hier, den ganzen Gemüthszustand des Dichters im Auge behalten, sehr viel Täuschung nothwendig mit unterlaufen mußte. Auch ist es sehr auffallend, daß, seitdem sich Kerner nicht mehr auf Geister legte, es auch keine mehr in Weinsberg gab.

Daß ein so gearteter Dichter, der noch dazu selbst sagt: „alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; denn nur aus Veranlassungen aus meinem und meiner Freunde Leben habe ich sie gedichtet,“ sich in Romanzen und Balladen nicht so erging, als der mehr verständige, männliche Uhland, ist nicht zu verwundern. Doch gehören Kerner’s „Kaiser Rudolph’s Ritt zum Grab“, „der reichste Fürst“ und „der Geigner zu Gmünd“ zu den besten Dichtungen dieser Art. Dagegen zeichnen sich viele seiner Lieder durch den Charakter der Singbarkeit aus, wie ja auch mehrere („Schwarzes Band, o Du mein Leben!“ „ Dort unten in der Mühle“, „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein“, „Preisend mit viel schönen Reden“) in allen Kreisen gesungen werden. Den Ton des Volkslieds versteht Kerner auf’s Beste zu treffen, und bekannt ist, daß sein Lied eines Handwerkburschen: „Mir träumt’, ich flög’ gar bange“ für ein altes Volkslied gehalten und als solches von Armin und Brentano in „des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen wurde.

Bei einer Persönlichkeit von so ausgezeichneter Begabung, von so scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeiten, bei einem Manne, der so durch und durch Original war, daß man sagen muß, einen Menschen wie Kerner trifft man in ganz Europa nicht, konnte es nicht fehlen, daß er bald die Aufmerksamkeit Deutschlands auf sich zog, daß sein Ruf die Grenzen Deutschlands überschritt. Hier ist daher

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_223.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)