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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nach einem Uebergange von nur wenigen Tagen die Sonne in einen großen Schweißtropfen aufzulösen droht. Deshalb vielleicht existiren hier so wenige Gedichte, die den Winter besingen, und doch ist es eben dieser strenge Gast, der dem Petersburger Leben Schwung und Poesie verleiht, soweit letztere hier überhaupt zu finden ist.

Wo früher der finnische Fischer mitten im Sumpfe seine Hütte hatte, in der er ein kümmerliches Dasein fristete, da sprach Er: „Es werde eine Stadt,“ und Petropolis ward; so sagt Puschkin, und wahrlich, welche Vorwürfe man Peter dem Großen bezüglich der Gründung von Petersburg machen mag, bewundernswerth bleibt die gigantische Kraft, die aus dem Chaos der Newa-Sümpfe die kolossale Stadt heraufbeschwor, die sich jetzt in den Fluthen des bis dahin jungfräulichen Stromes spiegelt, und stolz blickt auch heute noch der eherne Czar von seinem Granitblocke nieder auf die grünen Wogen, die er in Fesseln schlug.

Aus der langen Reihe unsrer Wintertage nehme ich einen heraus, um den Leser zu einem Spaziergang einzuladen. Wolkenlos wölbt sich der blaue Himmel, über unserm Haupte, und die Sonne, die zwar nicht hoch genug steigt, um uns viel sichtbar zu werden, vergoldet die Kuppeln der Kirchen und kleidet die oberen Stockwerke der Häuser in freundliche Tinten. Kerzengerade steigt der Rauch aus Tausenden von Schornsteinen, aber schon in unmerklicher Höhe in Reif verwandelt, bildet er bald einen Niederschlag, der sich auf Alles setzt, was in sein Bereich kommt. Die Pferde sind alle mindestens Grauschimmel, denn unter der Reifdecke ist ihre Farbe verschwunden, die meist bärtigen Iswostschiks[1] erscheinen mir als eben so viele ehrwürdige Greise, und wir selbst, wenn wir nach einem kurzen Spaziergange an einem Spiegel vorbeikommen und uns wohlwollend anblicken, sind versucht, den Hut abzuziehen und zu grüßen, so väterlich sehen wir aus. – Wir gehen über den Newsky-Prospect. Nur mühsam drängen wir uns durch die Tausende von Spazierenden, die das schöne Wetter in’s Freie gelockt hat. Es ist eben zwei Uhr; die Parade ist aus. In Schlitten und Wagen fliegen die Generale, die derselben beigewohnt haben, an uns vorüber. Ein kleiner einspänniger Schlitten hat uns überholt. Alles salutirt und grüßt; es war der Kaiser, den wir in so einfachem Fuhrwerke freilich nicht vermuthet hätten. Wir kommen zum Ende des Newsky-Prospects und auf den Admiralitätsplatz. Zu unserer Rechten dehnt sich das Generalstabsgebäude aus, zur Linken sehen wir die vergoldeten Kuppeln der Isaakskirche, weiter sehen wir den Sitzungspalast des Senates und der heiligen Synode. Vor uns etwas links haben wir die Admiralität mit ihrer goldnen Spitze, etwas rechts haben wir das Winterpalais und die damit zusammengebaute Eremitage, den Lieblingsaufenthalt der Kaiserin Katharina der Großen, der aber unter den letzten Regierungen zum Kunsttempel umgeschaffen worden ist. In der Mitte des Platzes zwischen Winterpalais und Generalstab ragt die berühmte Alexandersäule empor, die einen deutlichen Beweis von der Rauhheit des Petersburger Klima ablegt, denn wir sehen an ihr, daß selbst der Granit demselben nicht widerstehen kann. Es zeigen sich in ihr bedeutende Risse und Sprünge, und die Commission von Sachverständigen, die darüber zu rapportiren hatte, hat ihr ein Bestehen von nur höchstens 30 Jahren versprochen. Das Boulevard zwischen Winterpalais und Admiralität verfolgend, kommen wir zur Matuschka[2] Newa, wie sie der Russe nennt. – Vor uns breitet sich eine weite Eismasse aus; in kleiner Entfernung sehen wir das schöne Ufer von Wasilii-Ostrow[3]; die Rostra vor der Börse, diese selbst, die Sternwarte, die Universität, die Akademie der schönen Künste und Wissenschaften bieten einen imposanten Anblick. Das Panorama wird von der schönen Nicolaibrücke würdig abgeschlossen.

Betreten wir die Newa vom Landungsplätze neben der Admiralität, so fällt uns zuvörderst etwas links eine compacte Menschenmenge auf. Wir treten näher und sehen, daß die Samojeden der Anziehungspunkt für diesen Zuschauerkreis sind.

Es giebt bekanntlich verschiedene samojedische Stämme, die an den Ufern des nördlichen Eismeeres leben; die wir hier vor uns sehen, kommen aus dem Gouvernement Archangelsk. Ihr Wohnort liegt jenseits des 65. Grad nördlicher Breite. Die Tundren oder Einöden, die sie bewohnen, sind unwirthbar; außer dem in seinen Ansprüchen so bescheidenen Rennthiere und dem Hunde, den die Vorsehung uns in allen Zonen zum Freunde und Wächter zugetheilt hat, existirt fast kein Thierleben. Trotz alledem liebt der Samojede in seiner Art gut zu essen und noch mehr zu trinken; nach diesen beiden Neigungen kommt die dritte, der Schlaf. Von der Trunksucht der Samojeden wird viel erzählt, und wie weit sie gehen muß, beweist der Umstand, daß sie oft eine gefahrvolle Fahrt von 100 Werst und mehr nicht scheuen, um einige Schluck Branntwein zu erlangen. Es ist natürlich, daß bei Menschen, die größtentheils durch weite Wüsteneien von ihres Gleichen entfernt sind, bei denen der Boden culturunfähig ist und folglich auch die Civilisation durchaus keinen Eingang finden kann, alle thierischen Bedürfnisse die Oberhand haben müssen. Die Mesenschen Samojeden bewohnen die östliche Hälfte des Gouvernements Archangelsk, einen Raum von 11,600 Quadratmeilen. Die ganze Bevölkerung jenes kolossalen Landstriches besteht aus 4,900 Individuen, von denen nur ein sehr kleiner Theil feste Wohnsitze hat. Die Uebrigen wohnen in Zelten, die sie bald da, bald dort aufschlagen, je nach den Bedürfnissen ihrer Rennthierheerden, die sich oft auf 10 – 20,000 Stück belaufen. Ein solches Zelt (Tschum) besteht aus einigen in den Boden gesteckten Stangen, um die eine doppelte oder dreifache Lage von Rennthierhäuten einzig Schutz gegen die Unbilden des dortigen Klimas gewährt. Innen ist der Fußboden mit einem Geflechte von Zweigen belegt, über das abermals eine Decke von Rennthierfellen gebreitet ist. In der Mitte ist eine Erhöhung, auf der ein kümmerliches Feuer mehr raucht, als brennt. An den unteren Enden der Zeltstangen hängen die wenigen Kochgeschirre. Ein solches Zelt ist dem anderen bis auf die Raumverhältnisse stets durchaus gleich. Wenn man bedenkt, daß die Samojeden in diesem stinkenden Winkel ihre neun Wintermonate fast ununterbrochen zubringen, so muß man sich über die Zähigkeit der Menschennatur wundern. Der Wechsel vom Winter zum Sommer ist fast ohne irgend einen Uebergang, und nach wenigen Tagen sieht man da, wo vorher Schnee und Eis die unermeßliche Fläche bedeckte, plötzlich bunte, theils mit Moos, theils mit Gras bewachsene, von zahlreichen Seen und Flüssen bewässerte Fluren. Die Freude ist aber nur kurz, denn schon nach 10–11 Wochen gewinnt der Frost wieder die Oberhand, und ein weiter Schneemantel bedeckt wieder die kümmerliche Vegetation, die sich kaum zu entfalten schien. Während des Sommers beschäftigt sich der Samojede mit Jagd und Fischfang, und es ist unglaublich, mit welcher Waghalsigkeit er sich auf seinem gebrechlichen Fahrzeuge oft weit in die hohe See wagt.

Doch ich versprach eine Beschreibung der Wintervergnügungen auf der Newa und halte eine Vorlesung über Völkerkunde. Der Leser vergebe mir, ich werde um so kürzer sein, um für die vorhergehende Länge zu entschädigen. Die Samojeden, die wir hier vor uns sehen, gehören zu dem eben beschriebenen Stamme der Mesenschen. Der Unternehmungsgeist, der sich auf Alles erstreckt, hat sich ihrer bemächtigt. Für wenige Kopeken fahren uns diese Söhne des Polarkreises von der Palast- bis zur Nicolaibrücke, und wir haben Gelegenheit, uns de facto von der Schnelligkeit der Rennthiere zu überzeugen, denn die bedeutende Strecke, die wir durchfahren, wird hin und zurück in wenigen Minuten zurückgelegt. Der Schlitten, den wir vor uns sehen, und aus dem die Samojeden Sommers und Winters fahren, könnte in Anbetracht ihres Wohnortes gar nicht praktischer sein. Zwei weit auseinander stehende Kufen tragen auf Sprossen, die sich nach oben nähern, den Sitz, der leiterartig und mit Rennthierfell überzogen ist. Am Vordertheil des Fuhrwerks befinden sich kleine Klötzchen mit Löchern, durch die die Zugstränge gezogen werden; an diesen letzteren sind Gurte, die dem Thiere einfach über den Hals geworfen werden, und die Bespannung ist fertig. Die Leine, denn es ist nur eine vorhanden, mögen noch so viele Thiere vorgespannt sein, wird an das Geweih des links gehenden Rennthieres befestigt. Außerdem bedient sich der Samojede zur Lenkung seines langen Stockes, an dessen einem Ende sich eine Eisenspitze, am anderen ein Knopf befindet. Der Anzug der Samojeden, ganz aus Thierfellen bestehend, ist durchaus nicht unkleidsam. Ein Hemd aus Rennthierfellen, bei dem die Haare nach innen, die Haut nach außen gekehrt sind, und das sie „Malitza“ nennen, bildet den Haupttheil derselben. Außerdem Strümpfe und Stiefel ebenfalls von Fellen, die

letzteren aus verschiedenfarbenen Streifen zusammengenäht. Die

  1. Analog mit unseren Droschkenkutschern.
  2. Mütterchen. Verkleinerung von matj, die Mutter.
  3. Wilhelms-Insel, die, von der großen und kleinen Newa umflossen, einen eigenen Stadttheil bildet.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_214.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)