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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Gefahren und noch größerem Muthe gehört haben. Er selbst hatte nie darüber gesprochen. Er war überhaupt schweigsam, verschlossen. Ein Schmerz, ein Gram schien ihm das Herz zu erfüllen, die Lippen zu verschließen. So wußte man auch sonst nichts aus seinem früheren Leben.

Er kam in Zürich an. Wie er befreit und gerettet wurde, das wußte man auch jetzt nicht. Arme Leute hätten ihn gepflegt und verborgen gehalten, bis er wieder habe gehen können; das Glück habe ihn über die Grenze und in Sicherheit gebracht. Das war Alles, was er mittheilte, und auch nur, wenn er gefragt wurde. Weiter dann mit Fragen in ihn zu dringen, dazu hatte Keiner das Herz. Er kam elend, krank zurück und mußte sich beim Gehen auf eine Krücke stützen. Konnte er auch später die Krücke fortlegen, krank und schwach blieb er lange, und bleich war er immer, und ein tiefer Schmerz konnte nicht aus seiner Brust weichen und ein schwerer Gram nicht von seinem ganzen Wesen. So war er still, für sich allein, die Menschen meidend, auch seine früheren Cameraden.

Aber wo man ihn traf, war er stets milde, freundlich, theilnehmend, selbst manchmal mittheilsam. Nur über sich, über sein Leben, über seine Schicksale sprach er nie ein Wort. Nicht einmal seiner Heimath erwähnte er. Eins erfuhren wir von ihm, daß er zu leben hatte, daß er keiner fremden Unterstützung bedurfte. Er war immer gern und zuerst dabei, wenn irgend ein armer Flüchtling gegen die Noth und die Sorge des Lebens unterstützt werden mußte. Und wie oft mußte das geschehen! Wie und woher er seine Gelder erhielt, auch davon wurde nichts bekannt.

Seine Cameraden aus dem badischen Feldzuge hatten sämmtlich im Laufe der ersten paar Jahre Zürich verlassen. Man sah ihn seitdem nur noch seltener. Ich begegnete ihm nur auf einsamen Spaziergängen. Sein zerschossener Fuß war geheilt; er war nur lahm geblieben. Er war immer, blos still grüßend, an mir vorübergegangen; um so mehr war ich verwundert, als er nach längerer Zeit eines Tages mich besuchte. Indeß nur eine Geschäftssache hatte ihn zu mir geführt.

Er hatte in der Heimath einen alten Oheim, der, selbst kinderlos, den größeren Theil seines nicht unbedeutenden Vermögens ihm zuwenden wollte, jedoch in Verlegenheit war, wie dies einzurichten sei, damit die heimathliche Regierung das Geld nicht in Beschlag nehme. Er bat mich um meinen juristischen Rath. In der Heimath wagte man nicht, sich einem Gerichte oder Advocaten anzuvertrauen. Die Justiz war damals in vielen deutschen Ländern allerdings danach. Ich gab ihm meinen Rath. Die Sache war danach eingeleitet und mit Erfolg. Er theilte mir die Nachricht mit und hatte in der Sache mehrmals mit mir conferiren müssen. Ich hatte dabei mehr und mehr sein wahrhaft klares, edles Herz kennen gelernt; aber über sein früheres Leben, über seine Schicksale erfuhr ich dennoch nichts mehr, als was wir Alle schon wußten. Nicht einmal den Namen seiner Heimath sprach er, auch jetzt nicht, aus, nicht den Namen seines Onkels oder anderer Verwandten.

Er selbst nannte sich Alexander Roth, so hatte er sich auch in der badischen Armee genannt. Ob es sein rechter Name war, wußte Niemand. Einer seiner früheren Cameraden hatte daran zweifeln wollen. Ein Soldat in der Compagnie hatte behauptet, den Hauptmann Roth vor einem Jahre in einer großen deutschen Residenz unter sehr vornehmen jungen Herren gesehen, nachher aber Allerlei von einer sonderbaren, geheimnißvollen Vergiftungsgeschichte gehört zu haben. Der Mensch war aber als ein Abenteurer und Aufschneider bekannt gewesen, und er konnte sich auch geirrt haben.

Ein Zufall sollte mich später – es war im Sommer 1856 – auf eine Spur – nur auf eine Spur und auch nur auf die einer einzigen Begebenheit, eines einzelnen Abenteuers aus seinem früheren Leben führen. Freilich, auf wie viel Anderes war daraus zu schließen!

Ich hatte – ganz allein – eine kleine Reise zum Rheinfall bei Schaffhausen gemacht. Ich machte die Rückreise nach Zürich zu Fuße bis Constanz am, oder wie das alte Volkslied sagt, „im“ Bodensee, an beiden Ufern des Rheins entlang. Durch reizende Thäler, über anmuthige, mit Wald bedeckte Anhöhen war ich von Schaffhausen nach dem Städtchen Diessenhofen gekommen. Das einfache Städtchen interessirte mich nicht, aber das Nonnenkloster Diessenhofen zu Ende des Orts. Es ist auch einfach. Aber es liegt so lang und grau und still an dem klaren, hellen, munteren Rhein, und es war ein stiller Sommerabend, da ich ankam, und als die letzten Wolken der Abendröthe verschwunden waren, ging der Mond am Himmel auf, und in seinem blassen Scheine mußte das Kloster noch trauriger daliegen mit seinen langen, grauen, stillen Mauern und allen den armen, trauernden, weinenden, brechenden – oder schon gebrochenen Frauenherzen darin.

Ich hatte mir Kloster, Klosterhof und Klosterkirche angesehen. Aber nicht Alles von allen Seiten. Das Kloster Diessenhofen liegt mit der ganzen Länge seiner Rückseite unmittelbar am Rhein. Die Mauern stehen in dem Wasser. Ich mußte auch diese Seite sehen. Ich ging zu der Schifflände des Orts und ließ mich in einem Nachen auf den Rhein hinausfahren; nach dem Kloster hin, sagte ich zu dem Schiffer, der mich fuhr, an dem ganzen Gebäude entlang; zuerst auf der Mitte des Stroms, dann näher zu den Mauern hin, unmittelbar an sie heran. Er fuhr mich so. Das Licht des Vollmonds fiel gerade von dieser Seite, vom Wasser her auf die Mauern. Sie lagen so regelmäßig lang da, nicht grau in dem weißen Mondlichte, aber weiß, so gespenstisch weiß; die Fenster – sie waren nicht schmal und niedrig, sondern hoch und breit, und schwere eiserne Gitterstangen zogen sich vor ihnen kreuz und quer; so lagen sie in langen, langen Reihen da, neben einander und über einander, alle dunkel und schwarz und melancholisch und schaurig.

„Sind die Zellen der Nonnen auf dieser Seite?“ fragte ich den Schiffer.

„Ja, Herr. Und die Nonnen können hier alle Tage die Dampfschiffe sehen, die vorüber fahren, hin und her.“

Hinter den schweren, festen, eisernen Gittern konnten sie die Dampfschiffe sehen, mit den lustigen Wimpeln, den fröhlichen Menschen, dem lustigen Leben, frisch, frei daher ziehend, auf dem frischen freien Strom, aufwärts, abwärts, sie selbst einsam, von der Welt abgeschnitten, von dem Leben ausgestoßen, eingeschlossen wie im Grabe, bleich und traurig, verwelkend, verwelkt, nach dem Leben, nach der Freiheit, nach Menschen und nach Liebe sich sehnend, vergebens sich sehnend, bis das Grab in der Erde die armen, müden Herzen noch enger und für immer einschließt.

Ich war näher an die Mauern herangekommen. Der Nachen war keine sechs Schritt von ihnen entfernt. Ich hörte, wie die leichten Wellen des ruhigen Wassers an den Steinen plätschernd vorüber eilten. Ich sah an den Fenstern, unter denen wir vorüber fuhren, hinauf. In einem der dunklen, schwarzen Fenster zeigte sich eine weiße Gestalt. Es war schon spät, nahe an Mitternacht. Die Gestalt stand mitten in dem Fenster, hinter den dichten Gittern; hoch, fast in ganzer Figur, ganz weiß, Kleidung, Kopfbedeckung, Gesicht; auch das Gesicht, es war weißer als das weiße Nonnenkleid, als das schneeweiße Kopftuch.

„Eine Nonne!“ flüsterte der Schiffer mir zu.

Wohin mochte sie vorher geblickt, wonach mochte sie bis in die Mitternacht hinein ausgeschaut haben? Nach den freien Wellen zu ihren Füßen, nach dem grünen, waldigen Ufer drüben? Nach Liebe, nach Leben? Wir waren vorüber gefahren.

„Das dürfte die Frau Priorin auch nicht wissen,“ sagte der Schiffer.

„Was nicht?“ fragte ich ihn.

„Daß die Schwester in so später Nacht an dem offenen Fenster steht.“

„Und warum nicht?“

„Hm, Herr, sie ist noch jung, die Schwester Walpurgis, und da kann allerlei passiren, was nicht in Ordnung ist, und die Frau Priorin, die jetzt da ist, versteht keinen Spaß. Und doch mußte sie vor einigen Jahren den großen Verdruß erleben.“

„Was für ein Verdruß war es?“ fragte ich.

„Hm, eine Nonne ging ihr durch, eigentlich erst eine Novize. Aber es war doch schlimm genug, und eine curiose Geschichte war es gewiß.“

„Erzählt sie.“ Ich war anfangs nur neugierig gewesen, wie man eben auf Geschichten von entführten oder sonst entflohenen Nonnen neugierig ist. Bald sollte jedes seiner Worte meine Aufmerksamkeit spannen und fesseln.

„Es war vor sechs oder sieben Jahren,“ begann er. „Die Revolution war damals drüben in Deutschland. Der Krieg hatte schon aufgehört. Es war freilich ein sonderbarer Krieg. Nur der eine Theil wollte sich als ehrliche Soldaten gelten lassen, und wenn sie auch vor den Anderen recht ordentlich gelaufen waren, nachher aber wieder Sieger wurden, so ließen sie die Besiegten, die sie eingefangen hatten, als Rebellen vor den Kopf schießen. Wir

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_210.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2018)